Ein streitbarer Zeitgenosse
Nach seinem Theologiestudium in Genf und in Montauban und einer ersten Pastorenstelle in Amsterdam ließ sich Athanase Coquerel 1830 als Pastor in Paris nieder, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Durch seine umfassende Allgemeinbildung und seine außergewöhnliche Rednergabe wurde er zu einem der wichtigsten Vertreter der liberalen Bewegung und einem der Mitbegründer des « Bundes » (Lien).
Als Mann seiner Zeit wollte er gleichermaßen modern und wissenschaftlich sein. 1842 veröffentlicht er sein Buch L’Orthodoxie moderne (Die Moderne Orthodoxie), und 1847 die Abhandlung Le Christianisme expérimental (Das experimentale Christentum). Er wollte das Christentum genauso wie andere Wissensbereiche behandelt sehen und forderte eine wissenschaftliche Methode für die Theologie.
Dabei beschränkt er sich darauf, die überkommenen und nicht wissenschaftlich begründeten Lehrmeinungen zu entschärfen, ohne jedoch der Glaubenslehre seiner Zeit mit Argumenten entgegen zu treten. Er nimmt eine einfache Trennung zwischem dem vor, was ihm bewahrenswert erscheint und dem, was man verwerfen sollte. Häufig scheint er in seinen Überlegungen auf halbem Wege stehen zu bleiben, da er von vornherein im Rahmen des wahren Christentum bleiben will.
Von der geistigen Kühnheit, die er in seinen Büchern an den Tag legt, ist in seinen geistlichen Predigten sehr viel weniger zu finden. Er predigt vor allem die Moral, da für ihn die Theologie als Wissenschaft nur den Spezialisten zugänglich ist. So erklärt er in der Orthodoxie moderne, daß es nicht weiter schlimm sei, wenn ein Gläubiger diesen oder jenen Abschnitt der Bibel nicht verstünde ; er müsse sich dann nur vor Augen halten, daß diese Textstellen für « Menschenkinder höherer Geistesgaben » verfaßt seien. In einer Predigt zum Thema « Heiligung des Gottesnamens » geht er davon aus, daß « Gott heiligen » ganz einfach heiße, ihn zu kennen, und er fügt hinzu : « überlaßt die höheren Gedankenflüge den Geistern, die Gott dafür geschaffen hat ; versucht nicht zu verstehen, was über eure Kräfte geht ». Einer seiner Biographen hat geschrieben, daß er in seinen Predigten nur das Evangeliums zusammenfassen und nahebringen wollte : « eine Menge Vorschriften und einfache Wahrheiten, die euch als Richtschnur eurer Lebensführung dienen sollen (…) Bevor der Höchste Richter euch fragen wird, was ihr geglaubt hat, wird er euch fragen, wie ihr gelebt habt ».
Obwohl er in der liberalen Bewegung eher zum gemäßigten Flügel gehörte, wurde er von den Evangelikalen scharf angegriffen, da er sich in kirchlichen Fragen dem extremen Flügel anschloß. Ab 1844 hatte er im Tempel von Batignolles, den er selbst hatte errichten lassen, Predigtverbot, und am Ende seines Lebens wurden sämtliche Kandidaten, die er als seine Vikare vorschlug, abgelehnt. Auch seinem Sohn wurde eine Anstellung als Vikar verweigert, was seine Anhänger als wahre Verfolgungsmaßnahmen verstanden. Es ist möglich, daß diese Feindlichkeiten auch mit Coquerels politischem Einfluß und mit seiner Rolle in der II. Republik (1848-1852) zusammenhingen : er war Abgeordneter der Verfassungsgebenden Versammlung (1848) und war während der Gesetzgebenden Versammlung (1849) an der Ausarbeitung des Dekrets vom 26. März 1852 beteiligt, das den Zentralrat der Reformierten Kirchen einrichtete, von dem die Strenggläubigen annahmen, daß er sich der liberalen Bewegung öffnen würde.