Professor der Dogmatik
Auguste Sabatier war erst Pastor und wurde dann reformierter Theologe. Für manche ist er der « größte französische Theologe seit Calvin ». Die von F. Laplanche verfaßte biografische Notiz über Sabatier (in : André Encrevé (Hg.), Les Protestants, 1993) kann wie folgt zusammengefaßt werden :
Sein Werdegang. Sabatier wurde in der Ardèche in einer stark von der Frömmigkeit der « Erweckung » durchdrungenen Familie von Kleinkrämern geboren. Bis zur Hochschulreife besuchte er das Olivier-Institut in Ganges (Hérault), wo er mit einigen Freunden eine Christliche Union gründete. 1858 schrieb er sich an der Theologischen Fakultät von Montauban ein und wurde nach weiteren Studien in Basel, Tübingen und Heidelberg (1863-1864) Pastor in Aubenas (1864-1868).
1868 wurde er auf Vorschlag der strenggläubigen Protestanten (oder Evangelikalen) als Professor für Reformierte Glaubenslehre an die Theologische Fakultät von Straßburg berufen. Als Elsaß-Lothringen 1870 von den preußischen Truppen besetzt wurde, verlor er seinen Lehrstuhl und wurde des Landes verwiesen. 1873 verließ er Straßburg und ging nach Paris.
Dort bereitete er den Aufbau einer Theologischen Fakultät vor, die durch ein Dekret vom 27. März 1877 eingerichtet wurde. Sabatier besetzte dort auf Lebenszeit den Lehrstuhl für Reformierte Glaubenslehre und wurde 1895 zum Dekan der Fakultät ernannt. Schon seit 1886 war er daneben als Studiendirektor im Fach Religiöse Wissenschaften an der École Pratique des Hautes Études tätig, wo er auch als Lehrbeauftragter Vorlesungen über die Geschichte der christlichen Literatur hielt.
Er war Mitarbeiter verschiedener protestantischer Zeitschriften und Tagesblätter und hat jahrelang die Sonntagsschule der Reformierten Kirche vom Étoile geleitet.
Sein Werk : Sabatier untersucht das Verhältnis – die Gemeinsamkeiten ebenso wie die Unvereinbarkeiten – von Theologie und Kultur. Ihn interessiert der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Glauben und zwischen den Glaubenssätzen (Dogmen) und der Gewissensfreiheit sowie das Problem der dauerhaften Geltung von unverrückbaren Dogmen in einer sich stetig wandelnden Welt. Im Einklang mit Friedrich Schleiermacher (1768-1864) geht Sabatier davon aus, daß der Glaubenslehre (Dogmatik) eine religiöse Empfindung vorausgeht (und nicht umgekehrt) ; da diese Empfindung je nach dem Kulturkreis, der sie hervorgebracht hat, unterschiedlich ausgeprägt ist, zeichnet die Entfaltung der Dogmatik die Entwicklungsgeschichte des religiösen Empfindens nach ; sie ist folglich ein Teilbereich der historischen Wissenschaften. Die Religion wird so als spirituelle Erfahrung verstanden, deren Innerlichkeit durch die Psychologie, und deren Äußerungen durch die Geschichte erklärt werden können. Letztlich ist die Theologie also den Religionswissenschaften gleichzusetzen ; sie findet ihren Platz in der Kulturgeschichte, ohne deshalb ihre biblischen Quellen zu verleugnen : in der Tat hat die spirituelle Erfahrung von Jesus, der in der Gewißheit lebte und litt, Gottes Sohn zu sein, einen nicht zu übertreffenden und niemals wieder zu erreichenden Grad der Heiligkeit nach sich gezogen.
Die Umwandlung der traditionellen Glaubenslehre in eine religiöse Erfahrungswissenschaft führt zu einer neuen Auffasung des religiösen Wissens : dieses beruht vor allem auf Glaubensbekenntnissen (Symbolen), denn so wie es ein Leben von Organismen und ein Leben von Sprache gibt, so gibt es auch ein Leben der religiösen Symbole, die sich zwar im Laufe der Zeit überlagern und ablösen, jedoch immer die selbe Grunderfahrung widerspiegeln, wobei das biblische Wort der unveränderliche Bezugspunkt bleibt, an dem sich alle (christlichen) symbolischen Systeme messen lassen, und zwar nicht unter Bezug auf das Wort selbst, sondern weil der Gläubige in ihm dem lebendigen Jesus begegnet. Diese Sehweise steht derjenigen von Eugène Ménégoz (1838-1921) so nahe, das die Bezeichnung « Symbolo-Fideismus » auf das Werk beider Theologen angewandt werden kann.
Das republikanische Engagement
Seine Rolle : Sabatier hat eine bedeutende Rolle im Verhältnis des französischen Protestantismus zur Republik gespielt. Indem er die Theologie in die Geschichte (oder die Soziologie) der Religion einbettete, rechtfertigte er den Stellenwert einer Protestantisch-Theologischen Fakultät im französischen Hochschulwesen und somit auch die Mitarbeit protestantischer Theologen am Fachbereich Religionswissenschaften der École Pratique des Hautes Études.
Vor dem Hintergrund der wachsenden Auseinandersetzung zwischen « Weltlichen » [laïcs] und « Kirchlichen » [cléricaux] gelang es Sabatier durch sein Festhalten an einer « Religion des Geistes » den Protestantismus klar und unnachgiebig vom « autoritären » Katholizismus abzugrenzen, dabei aber allen Andersgläubigen – und insbesondere Papst Leo XIII. – mit Achtung zu begegnen. Für Sabatier gab es eine innere Übereinstimmung zwischen dem Protestantismus und der Republik. Die Verlegung der Theologischen Fakultät von Straßburg nach Paris, für die er sich sehr eingesetzt hatte, wurde von den Protestanten als eine Art offizielle Anerkennung ihres Patriotismus empfunden.
Sabatier räumte der historischen Kritik einen großen Platz ein, aber er selbst fühlte sich so stark an die Person von Jesus Christus gebunden, daß er stets betonte, das Geheimnis der Existenz Jesu bleibe uns in Ursprung und Vollendung unbegreiflich. Diese Hinwendung zu Jesus war für ihn kein persönliches Bekenntnis, sondern dasjenige der Kirche. Hiermit stellte er sich über alle Kirchenprobleme und Parteienstreitigkeiten, wie es seine Beteiligung am Versöhnungsversuch nach der Nationalsynode von 1872 zeigt. Die Ablehnung von Formalismus und Dogmatismus war ein Leitmotiv seines Lebens.