Befreiung und Säuberung
Die Säuberung, die von den zurückgekehrten Elsässern unterstützt wird, wirft gravierende Probleme auf und artet häufig in Abrechnungen aus, manchmal zwischen Katholiken und Protestanten, wobei Erstere die Letzteren der Kollaboration bezichtigen. Manche Elsässer werden festgenommen und erhalten ein Aufenthaltsverbot (wie C. Maurer), andere werden mit der Verhängung der nationalen Unwürdigkeit bestraft (sie werden 1953 und 1955 amnestiert) oder dem Widerruf der Berufung in öffentliche Ämter. Die von beiden Fronten zurückkehrenden Zwangsrekrutierten (« Malgré Nous ») werden erniedrigt. Lager werden wieder eröffnet, in denen zwischen November 1944 und Juli 1945 6 000 Personen interniert werden.
Glücklicherweise werden durch das Handeln effizienter, verständiger Präfekten, von denen die meisten das Elsass kennen, die Irrtümer der Zeit nach 1918 vermieden. Sie fördern den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der Wirtschaft. Es werden Vorschulen (“écoles maternelles”) eingerichtet, um das Erlernen der französischen Sprache sicherzustellen.
Die politische Lage
Politisch ist die öffentliche Meinung mit unvermeidlichen Schwankungen von Jahr zu Jahr in drei Richtungen gespalten :
Die Katholiken gruppieren sich um die neue Partei “Mouvement Républicain Populaire” (Republikanische Volksbewegung), die von der starken Persönlichkeit von P. Pflimlin (Bürgermeister von Straßburg, Abgeordneter von 1945 bis 1967, mehrmals Minister, vorletzter Ministerpräsident der Vierten Republik vor der Rückkehr General de Gaulles an die Macht im Jahre 1958) beherrscht wird. Nach 1965 hat sich die MRP auch für Protestanten geöffnet.
Die “liberalen” Protestanten bilden eine der Bastionen des Gaullismus, wie es der prozentuale Anteil der gaullistischen Wählerstimmen zeigt, der stets höher ist als der in den anderen französischen Regionen. Sie verbinden sich oft mit “nationalen” Katholiken.
Die sozialistische Partei gewinnt an Einfluss mit protestantischen Persönlichkeiten wie Catherine Trautmann
Schematisch ausgedrückt, lässt sich sagen, dass das Elsass weiterhin zu zwei Dritteln rechts steht. Wenn es dort auch keine regionalistische Partei mehr gibt, so versteht es sich doch zu allererst als elsässisch. In Anbetracht der Zahl der Migranten wendet es sich zunehmend der extremen Rechten zu, bei den Präsidentschaftswahlen 1995 erhielt Le Pen beim ersten Wahlgang 25,4 % (gegenüber landesweiten 15,5 %).
Das religiöse Leben
In religiöser Hinsicht lässt sich bis zum Ende dieses so tragischen 20. Jahrhunderts ein langsamer Rückgang der religiösen Praxis feststellen. Bei der Befreiung Frankreichs gibt es nur eine ungenügende Anzahl von Pfarrern. Die Pfarrstellen sind erst ab 1960 vollständig besetzt ; die Pfarrer kommen vor allem aus den volkstümlichen Schichten. Es ist eine Feminisierung der Pfarrerschaft zu beobachten. 1963 werden drei Viertel der Gottesdienste noch auf Deutsch gefeiert, dieser Anteil ist jedoch rückläufig. Die Fakultät für protestantische Theologie in Straßburg ist aktiv, sie veröffentlicht die “Revue d’histoire et de philosophie religieuse”, und es sind die starken Persönlichkeiten von François Wendel, Roger Mehl, Oscar Cullmann hervorzuheben. Ab 1968 engagieren sich die jungen Pfarrer aktiver in der politischen Reflexion, was zwangsläufig lebhafte Debatten auslöst.
Die Zahl der Protestanten nimmt ab : 1910 sind es 322 000, 1962 : 251 000, 1991 : 228 000 (B.Vogler). Sie haben weiterhin starke Positionen im universitären und im industriellen Bereich inne, aber insgesamt wird ihre lokale Machtstellung schwächer, wie der nachlassende Bekanntheitsgrad der “Société industrielle de Mulhouse” (Industrielle Gesellschaft von Mülhausen) zeigt.
Die Liturgie in französischer Sprache erscheint manchen abstrakt und schwieriger als die an Liedern reiche deutsche Liturgie. Ein Dekret von 1974 regelt den schulischen Religionsunterricht für alle Konfessionen : ein bis zwei Unterrichtsstunden pro Woche mit interkonfessionellem Ansatz. Die Pfadfinderbewegung geht zwar zurück, aber es ist eine wachsende Anzahl von Treffen zu beobachten, bei denen das persönliche Engagement, das Leben in der Gemeinschaft, Zeiten der Besinnung, der Einsatz für die Dritte Welt im Vordergrund stehen.
Die Ökumene erscheint als eine wesentliche Forderung zwischen Lutheranern und Reformierten, zwischen Protestanten und Katholiken.1956 wird eine lutherisch-reformierte Kommission geschaffen, und dieses ökumenische Bestreben wird auf europäischer Ebene auf der Tagung von Leuenberg bekräftigt. Das Zweite Vatikanische Konzil war ein Ereignis von erheblicher Tragweite, die durch das Wirken von Mgr. Elchinger, des Bischofs von Straßburg und Präsidenten des Gemischten Nationalen Komitees der Protestantischen Kirchen und der Katholischen Kirche, noch verstärkt wurde.
Das Elsass als Kreuzungspunkt Europas
Das Elsass setzt vor allem auf Europa. Straßburg ist der Sitz des Europarats und beherbergt zahlreiche europäische Organisationen, darunter auch das Europaparlament. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit mit Deutschland beschleunigt sich nach und nach.