Ein Apostel der Toleranz
Den Philosophen der Aufklärung erscheint Luther als ein « grober und aufbrausender Mensch, der außerdem ziemlich eitel und selbstgefällig ist ». ( Encyclopédie de Diderot et d’Alembert, 1765).
In Voltaires Lettre sur les Allemands (1767) wird der maßvolle und tolerante Charakter Melanchthons gegenüber einem unausstehlichen Luther gelobt. Voltaire versäumt es dabei nicht hervorzuheben, dass die Toleranz Melanchthons in Sachen Religion von einigen seiner Zeitgenossen als eine Folge mangelnder Überzeugungen, ja sogar einer gewissen Gleichgültigkeit angesehen wurde. Man beschuldigte ihn der Versatilität und identifierte ihn mit Proteus, dem sich ständig ändernden und nicht zu fassenden Meeresgott aus der griechischen Mythologie. Anstatt Neptun zu sein, der die brausenden Winde zurückhält, d.h. Deutschland Frieden gibt, indem er religiöse Toleranz einführt, wird Melanchthon in den Augen mancher zum « Proteus Deutschlands », zu dem, der zu oft seine Meinung ändert, der nicht beharrlich genug ist, um Erfolg zu haben.
Was die Vorwürfe betrifft, die man Melanchthon wegen seiner Versatilität, ja sogar seines Skeptizismus macht, so meint Bayle, « dass man die Dinge übertreibe », besonders in den anti-protestantischen Schriften. Der Schluss seines Artikels über Melanchthon im Dictionnaire historique et critique kann verblüffen : gerade die Gelehrsamkeit Melanchthons, sein großer Geist und seine Mäßigung lassen ihn Wahres und Falsches in den Meinungen jener, die sich streiten, erkennen und hindern ihn daran, in seinen eigenen Meinungen ganz und gar standhaft zu bleiben. Der Philosoph kann sich also darauf beschränken, Melanchthon zu bewundern : « wenn irgendein Gründer will, dass seine Jünger mit Erfolg an der Ausweitung und Verbreitung seiner Dogmen arbeiten, muss er wünschen, dass sie gewillt sind, sich nicht davon abbringen zu lassen ». Da sich der Sieg einer Religion über die andere auf die Unnachgiebigkeit ihrer Führer gründet, musste Melanchthon scheitern.
Bayles Idee, dass der Erfolg einer Religion nicht von weisen und toleranten Theologen abhängt, kündigt die Religionskritik an, die Feuerbach, Nietzsche und Marx in Worte fassten.