Königreich Böhmen
Das Königreich Böhmen entsteht im 13. Jahrhundert. Es umfasst Böhmen und Mähren und gehört zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Unter Karl IV. (1345-1378), der zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt wird, erreicht es seine größte Ausstrahlung.
Sein Sohn Wenzel IV. (1378-1419) wird ebenfalls zum Kaiser gewählt, aber Aufstände und politische Krisen erschüttern seine Regierung, bis ihn die Kurfürsten im Jahre 1400 seines Amtes entheben. Das Reich wird immer wieder von Epidemien heimgesucht. 10% der Bevölkerung sterben 1380 an der Pest, von der in den Chroniken berichtet wird. Bei der vorherrschenden Unordnung scheint das Ende der Welt nahe zu sein.
Zur selben Zeit haben sich die Besitztümer des Klerus (Kirchen und Klöster) stark vergrößert, was beim Adel Misstrauen und bei der Bevölkerung Entrüstung hervorruft. Gleichzeitig ist die Macht der katholischen Kirche durch das Abendländische Schisma und die Rivalität der drei Päpste, einem in Rom, einem in Avignon und dem dritten auf dem Konzil zu Pisa ernannten, geschwächt. In dieser aufgewühlten Zeit tritt Jan Hus in Erscheinung.
Jan Hus (1371-1415)
Jan Hus entstammt einer armen, bäuerlichen Familie und studiert in Prag Theologie. Später wird er Rektor der Universität und Hofgeistlicher. Seine Predigten in tschechischer Sprache in der Bethlehemskapelle in Prag finden großen Zulauf und Anklang. Ab 1390 studiert er die Schriften des Engländers John Wyclif (1324-1384), der bereits den Reichtum der Kirche angeprangert hat und vom Papst Gregor XII. als Häretiker verurteilt wurde. Jan Hus studiert und kommentiert dessen Schriften ohne Unterlass; Wyclif verteidigt vor allem die Reinheit des Evangeliums gegen soziale Unterdrückung, Korruption und die übertriebene Macht der Kirche. Mit Wyclif hält Hus die Bibel für die höchste Autorität, auf deren Grundlage er Roms Irrtümer verurteilt: die Verehrung der Heiligen, die Transsubstantiation und schon bald die Ablässe. 1410 wird er exkommuniziert, kann aber mit der Unterstützung des Königs Wenzel IV. in Prag bleiben.
Als der Papst in Pisa einen Ablasshandel in Böhmen veranlasst, um den Krieg gegen den König von Ungarn zu finanzieren, protestiert Jan Hus energisch. Er bricht mit dem König, verlässt Prag und flieht nach Südböhmen. 1414 begibt er sich auf das Konzil von Konstanz, das das abendländische Schisma beenden soll. Dort trägt er seine Ansichten und seine Reformprojekte der Kirche vor. Der Kaiser Sigismund I. (1410-1437) hatte ihm freies Geleit verschafft, um seine Sicherheit zu garantieren. Aber in Konstanz wird er verhaftet und eingekerkert. Den Aufforderungen zum Abschwören gibt er nicht nach. Als Häretiker verurteilt stirbt er am 6. Juli 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen.
Die Hussitenkriege
Das Martyrium des großen Predigers führt in Böhmen zu maßloser Empörung gegen Sigismund und zu revolutionärer Stimmung. Im Juli 1419 stürzt die Menge mehrere kaiserliche Ratsherren aus dem Fenster des Rathauses: dieser „Erste Prager Fenstersturz“ leitet die Hussitenkriege ein, in denen die Katholiken die „Häretiker“ sowie die Hussiten sich gegenseitig bekämpfen. Denn die Anhänger von Jan Hus spalten sich schnell in gemäßigte und extreme. Die ersten nennen sich „Utraquisten“ und unterscheiden sich von den andern durch die Kommunion in beiderlei Gestalt. Die zweiten nennen sich „Taboristen“, lehnen jede Autorität sowohl kirchlicher als auch politischer Art ab und wollen nur nach den Gesetzen der Bibel leben.
Die Hussiten insgesamt leisten etwa zwanzig Jahre lang Widerstand gegen die kaiserlichen Armeen. Als sich die gemäßigten Utraquisten dem gegnerischen Lager anschließen, werden die extremistischen Taboristen vernichtet. Die „Utraquisten“ schließen sich nach dem 1436 unterzeichneten Frieden wieder der katholischen Kirche an, behalten aber ihre eigenen Geistlichen und erhalten das Recht zum Abendmahl unter beiderlei Gestalt.
Folgen der hussitischen Reform und der protestantischen Reformation
Eine Zeit religiöser Toleranz beginnt. 1457 bildet sich eine neue hussitische Kirche, die Brüderunität, und verkündet den Pazifismus. Sie bricht mit Rom und mit den Utraquisten, verfasst einen Katechismus und setzt eigene Bischöfe ein. Ihr Symbol ist der Calix (Kelch, für das Abendmahl in beiderlei Gestalt) auf einer Bibel (für die Bibel als höchste Autorität oberhalb des Papstes und der Kirche). Sie entwickelt sich nach und nach zu einer protestantischen Kirche.
1526 geht die Krone Böhmens wieder an die Habsburger. Das Königreich behält trotzdem eine gewisse Autonomie. Seit 1520 macht sich der Einfluss Luthers bemerkbar und der tschechische Adel entscheidet sich in großer Mehrheit für die Reformation, wobei er von den deutschen protestantischen Kurfürsten mehr oder weniger unterstützt wird. Die Brüderunität sendet übrigens auch Delegierte nach Straßburg zu Bucer; die nachfolgende Generation fühlt sich zu Calvin hingezogen. Der hugenottische Psalter wird ins Tschechische übersetzt, aber die Brüderunität entwickelt sich nicht zur reformierten Kirche. In ihr vereinen sich jedoch alle Nichtkatholiken im Widerstand gegen den königlichen Absolutismus. Sie erarbeiten ein gemeinsames Glaubensbekenntnis, das 1575 als Böhmische Konfession (Confessio Bohemica) unterzeichnet wird.
Während der Regierungszeit Rudolphs II. (1576-1612), der in Prag residiert, haben die Protestanten beträchtliches Gewicht im Stadtrat. Der Kaiser, der Kunst und Wissenschaften sehr liebt, beruft große Gelehrte wie den protestantischen Theologen und Astronomen Johannes Kepler an die Prager Universität. Die wirtschaftlichen Beziehungen nach Deutschland entwickeln sich durch lutherischen Kaufleute. Die Majestätsbriefe aus dem Jahr 1609 gewähren den verschiedenen Kirchen, die aus der tschechischen Reformation und der protestantischen Reformation hervorgehen, offizielle Anerkennung.
Ende des 16. Jahrhunderts gehören 85% der böhmischen Bevölkerung der protestantischen Religion an.
Die Schlacht am weißen Berg
Als Rudolph II. 1612 ohne direkten Erben stirbt, spricht der Reichstag die Krone von Böhmen dem Erzherzog Ferdinand der Steiermark (Habsburg) zu, einem Jesuitenschüler und Vertreter der Gegenreformation. Die Ernennung führt zu Revolten der Böhmen. Am 23. Mai 1618 erstürmen sie die königliche Burg in Prag und stürzen zwei aus Wien entsandte kaiserliche Statthalter aus dem Fenster. Obwohl den Räten dabei kein Schaden entsteht, löst dieser Fenstersturz doch den Dreißigjährigen Krieg aus.
Im Sommer 1619 wird Ferdinand der Steiermark unter dem Namen Ferdinand II. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt. Die Stände im Königreich Böhmen erheben sich und wählen ihrerseits Friedrich von der Pfalz, einen Kalvinisten, zum neuen König. Kaiser Ferdinand II. lässt mit Unterstützung Spaniens und des Papstes eine gut organisierte und von Maximilian von Bayern befehligte Armee auf Prag marschieren. Die Schlacht mit den böhmischen Protestanten findet am 8. November 1620 auf dem „weißen Berg“ vor den Toren Prags statt: Innerhalb von zwei Stunden werden die protestantischen Truppen in die Flucht geschlagen, die Anführer des Aufstands werden verhaftet und hingerichtet.
In der tschechischen Geschichtsschreibung ist der Weiße Berg der Wendepunkt, an dem Böhmen seine Autonomie und Religionsfreiheit verlor. Von nun an gibt es ein Vorher und Nachher in der Geschichte.
Heimliche Kirche
Von nun an ist nur noch die römisch-katholische Konfession zugelassen. Die Geistlichkeit der Böhmischen Brüder muss ebenso wie die protestantische Bourgeoisie auswandern oder zum Katholizismus konvertieren. Nach dem Frieden von Westfalen, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendet, gehören die böhmischen Länder zum Süden, der katholischen habsburgischen Seite. Sie werden der Gegenreform und erzwungenen „Rekatholisierung“ unterzogen, Prag schmückt sich mit Barockkirchen.
Die „protestantischen“ Leibeigenen dürfen nicht außer Landes gehen. Sie müssen sich zum Katholizismus bekehren und werden in ihrer Religionsausübung von der katholischen Geistlichkeit überwacht. Diese „Dunkelheit“ dauert 150 Jahre bis zum Toleranzedikt von 1781.
Dennoch bildet sich eine heimliche Kirche. Es gibt heimliche Feiern in Privathäusern und andere heimliche Versammlungen nach dem Ritus der Böhmischen Brüder. Entlegene Gegenden wie die von Velkà Lhota widerstehen trotz Drohungen den Anstürmen der Gegenreformation: Wer beim Abendmahl unter beiderlei Gestalt in flagranti erwischt wird, muss mit einer Verurteilung zu Zwangsarbeit oder Galeere rechnen. Prediger und Organisatoren der Versammlungen riskieren die Todesstrafe. In der Regierungszeit Karls VI. (1711-1740) verschärfen sich die Maßnahmen, aber die heimliche Kirche geht gestärkt daraus hervor.
Die Flucht
Über 600 Familien verlassen im ersten Jahrzehnt nach der Schlacht am Weißen Berg Prag, die Emigration setzt sich im 17. und 18. Jahrhundert trotz der Verbote und damit einhergehender Risiken fort. Der Bischof der Böhmischen Brüder Jan Amos Komensky, auf Lateinisch Comenius (1592-1670), der in ganz Europa für sein literarisches und pädagogisches Werk berühmt ist, muss in die Niederlande ins Exil gehen und besucht von dort aus unablässig die exilierten Gemeinden.
Die Fluchtbewegung geht in verschiedene Richtungen, meistens aber in die angrenzenden Länder: nach Sachsen gehen die meisten tschechischen Flüchtlinge, werden aber nicht immer gut aufgenommen, weil sie nicht in der lutherischen Kirche aufgehen wollen; in Berlin bilden sie eine bedeutende Gemeinde; in der Slowakei werden sie im Allgemeinen akzeptiert und oft helfen ihnen die ungarischen Kalvinisten. Die Emigration geht auch nach Polen und in die Ukraine, wo einige Gemeinden bis heute die tschechische Sprache beibehalten haben.
Nikolaus Graf von Zinzendorf nimmt im 17. Jahrhundert Glaubensflüchtlinge aus Mähren auf seinem Gut Herrnhut nördlich der tschechischen Grenze auf. Daraus entsteht die Gemeinschaft der Herrnhuter Brüdergemeine, eine erneuerte Brüder-Unität. Sie entwickelt sich zu einer vom Pietismus stark geprägten Bewegung mit großer Ausstrahlung. Sie werden auch missionarisch tätig und gründen in vielen Ländern wie in der Karibik, in Nordamerika und Grönland neue Gemeinden. So beeinflussen sie andere protestantische Gemeinschaften, besonders die Gründer des Methodismus.
Das Toleranzedikt (1782)
Kaiser Joseph II. (1780-1790) will das Habsburger Reich mit seinen Reformen verändern. Er schafft die Leibeigenschaft ab und gewährt in seinem Toleranzedikt vom 13. Oktober 1781 Glaubensfreiheit für Lutheraner und Reformierte. Die Nachfolger der Böhmischen Brüder aber gehörten keiner dieser beiden Konfessionen an; um Probleme zu vermeiden, ließen sie sich meistens als Reformierte eintragen. So erhalten sie fremde Pastoren für ihre Gemeinden. Die lutherischen Pastoren sprechen deutsch, die Landessprache Österreichs. Die reformierten Pastoren kommen aus Ungarn, dessen Sprache man nicht versteht, und müssen tschechisch lernen, was die Entwicklung der reformierten Kirchen bremst.
Die sich nicht für die eine oder andere Kirche entscheiden, leben ihre alten Überzeugungen heimlich weiter. Das Toleranzedikt ist in manche entlegene Gegenden gar nicht vorgedrungen.
Die lutherischen und reformierten Kirchen, die man „Kirchen der Toleranz“ nannte, konnten sich nicht richtig entfalten.
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheben sich Stimmen für die Wiedervereinigung der tschechischen protestantischen Kirchen. Dazu kommt es aber erst 1919 nach der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei.
Gegenwart
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnet sich ein Konflikt zwischen dem Gebrauch der deutschen Sprache und dem Erstarken der slawischen Sprachen ab. Dieser Konflikt nimmt an Intensität zu.
Die Verträge von Versailles und Saint-Germain (1918/19) führen zur Auflösung Österreich-Ungarns. Dabei entsteht die Tschechoslowakische Republik, indem dem ehemaligen Gebiet des Königreichs Böhmen (eher künstlich) die Slowakei angliedert wird. Eine radikal antikatholische Bewegung geht damit einher, denn die katholische Kirche wurde verdächtigt, die Habsburger gegen die tschechische Nation zu unterstützen. Obwohl die Tschechen überwiegend der katholischen Konfession angehören, akzeptieren sie paradoxerweise eine Geschichtsvision, die von einem Protestanten, Palacky, formuliert wird und die Gestalt des Jan Hus ins Zentrum des nationalen Gedächtnisses rückt. Ein Denkmal zur Erinnerung an Hus wird in Auftrag gegeben. Thomas Masaryk (1850-1937), Vater der Tschechoslowakischen Republik, bekehrt sich zum Protestantismus. Als tief religiöser Mensch glaubt er, dass die wahre tschechische Tradition im Hussitentum gründet. Er erhebt die Devise von Jan Hus „Die Wahrheit siegt“ zur Staatsdevise. Dabei hatte die Volkszählung von 1910 einen Anteil der Protestanten an der Bevölkerung von unter 4% ergeben.
1918 findet eine Hauptversammlung der protestantischen Tschechen statt und beschließt die Vereinigung der lutherischen und reformierten tschechischen Kirche (mit Ausnahme einiger lutherischer Gemeinden) zu einer einzigen Kirche, der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB, tschechisch Českobratrská církev evangelická, ČCE). Sie knüpft an die hussitische Reform und die Brüdergemeine an und ist nach dem Synodalprinzip organisiert.
1920 entsteht die Tschechoslowakische Hussitische Kirche, die zwischen katholischer und hussitischer Kirche steht. Einige „modernistische“ Geistliche, die die katholische Kirche in der Tschechoslowakei hatten reformieren wollen, waren von Rom verurteilt worden und beschlossen, eine Nationalkirche zu gründen. Die Tschechoslowakische Hussitische Kirche entwickelte sich gut und zählt heute 100.000 Mitglieder, 250 Pastoren, darunter etwa 100 Frauen.
Der Zweite Weltkrieg und die sowjetische Besetzung
1938 wird die Tschechoslowakei von den Nationalsozialisten autoritär und gewaltsam unter deutsche Herrschaft gezwungen. Die deutsche Besetzung ist hart. Bei der Teilung von Jalta 1945 wird die Tschechoslowakei unter sowjetische Besatzung gestellt. Die kommunistische Diktatur eröffnet den Kirchenkampf sofort. In der Zeit der Unterdrückung können die Kirchen in der „Bewegung der Priester für den Frieden“ in der katholischen und der „Christlichen Friedenskonferenz“ in der protestantischen Kirche eine gewisse Präsenz zeigen. Nach dem Prager Frühling 1968 und der nachfolgenden „Normalisierung“ tauchen Widerstandsbewegungen auf, an denen beide Kirchen aktiv teilnehmen.
Nach dem Untergang des Kommunismus löst sich die Slowakei von Böhmen und Mähren, die nun zusammen die Tschechische Republik bilden.
Die protestantischen Kirchen in der Gegenwart
Die tschechische Republik ist sehr verweltlicht, nur ein Drittel der Bevölkerung bekennt sich zum Christentum. Die meisten (96%) sind katholisch, nur 4% geben sich als Protestanten zu erkennen.
Die wichtigste protestantische Kirche ist die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder. Sie ist aus dem Zusammenschluss der lutherischen und reformierten Kirche entstanden, hat 120.000 Mitglieder und 230 Pfarrer (darunter 55 Frauen). Die Pfarrer werden an der theologischen Fakultät der Universität Prag ausgebildet und vom Staat bezahlt. Die diakonische Arbeit nimmt einen wichtigen Stellenwert in der Kirche ein.
Die Lutherische Kirche zählt 30.000 Mitglieder und 37 Pfarrer.
Seit dem 19. Jahrhundert gibt es eine Baptistenkirche und seit dem 20. Jahrhundert die Pfingstbewegung.