Jean-Paul Sirven, Geometer aus Castres
Jean-Paul (oder Pierre-Paul) Sirven, ein aus Castres gebürtiger protestantischer Feldmesser, hat sich mit seiner Frau Antoinette Légier und und seinen drei Töchtern Anne, Elisabeth und Jeanne in Saint-Alby in der Nähe von Mazamet niedergelassen.
Elisabeth zeigt alle Anzeichen eines Nervenleidens und gilt daher für ihre Umgebung als « schwachsinnig » oder « verrückt ». Am 6. März 1760 verschwindet sie aus ihrem Elternhaus. Ihre Familie begibt sich auf eine verzweifelte Suche, bis der Bischof von Castres endlich erklärt, das junge Mädchen habe im « Stift der Schwarzen Damen » um Aufnahme gebeten ; tatsächlich haben die Nonnen sie entführt, um sie vom protestantischen Glauben abzubringen.
Im Kloster werden Elisabeths Nervenkrisen immer heftiger. Am 9. Oktober 1760 schicken die Nonnen sie wieder nach hause. Von dort aus verschwindet sie aufs neue am 16. Dezember 1761. Am 4. Januar 1762 wird ihre Leiche in einem Brunnen in Saint-Alby gefunden.
Sirven wird beschuldigt, seine Tochter umgebracht zu haben. Am 19. Januar 1762 ergeht gegen die gesamte Familie Sirven ein gerichtlicher Haftbefehl : dem Vater droht der Tod auf dem Scheiterhaufen, der Mutter der Strang, und dem Familienbesitz die Beschlagnahme.
Die Familie Sirven ist jedoch rechtzeitig vorgewarnt worden und flieht sofort in die Schweiz. Da die Justiz ihrer also nicht mehr habhaft werden kann, wird am 29. März 1764 auf der Place du Plo vor der Kirche von Mazamet das Urteil symbolisch vollstreckt, indem ersatzweise Strohpuppen der Eltern verbrannt werden.
Die Familie Sirven trifft Voltaire
Einmal in die Schweiz gelangt nehmen die Sirvens Verbindung zu Voltaire in Ferney auf. Der Philosoph ist von ihrer Geschichte erschüttert und macht ihr Unglück mit den ihm zu Gebote stehenden, einzigartigen Mitteln öffentlich bekannt. Aus ganz Europa treffen Spenden und tatkräftige Hilfen für die Familie ein.
Madame Sirven stirbt kurz darauf an gebrochenem Herzen. Eine Überprüfung des vom Obersten Gerichtshof in Toulouse ergangenen Urteils wird eingeleitet.
Am 23. Januar 1768 wird die Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt.
« Ich fordere Gerechtigkeit für den bedrängten Sirven », ruft Voltaire 1769 in seiner an Boileau gerichtete Denkschrift aus. Sirven kehrt nach Frankreich zurück und stellt sich am 31. August 1769 in Mazamet freiwillig der Justiz.
Am 25. November 1771 hebt die Strafgerichtskammer von Toulouse das gegen die Sirvens ergangene und am 29. März 1764 in Abwesenheit vollstreckte Urteil auf und erstattet der Familie ihren beschlagnahmten Besitz zurück.
Voltaire ereifert sich : « Nur zwei Stunden hat es gebraucht, um diese ehrenhafte Familie zum Tode zu verurteilen, aber neun Jahre, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen ».
Ihre Geschichte endet am 15. Juni 1772 glücklich in Ferney. Voltaire schreibt : « Gestern war die ganze Familie bei mir ; alle hatten Freudentränen in den Augen ».