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Die Aufnahme des Werkes
von Karl Barth in Frankreich

Seit der Mitte der 1920er Jahre beschäftigt man sich auch in Frankreich mit den theologischen Denkansätzen von Karl Barth, was vor allem auf den Einsatz des Pastors Pierre Maury und des Dachverbandes der Vereinigungen christlicher Studenten Frankreichs (“Fédé“) zurückzuführen ist. Seit dieser Zeit werden die Werke des Schweizer Theologen ins Französische übersetzt und haben ihren festen Platz im Theologiestudium und in der christlichen Meditation. Sie rufen allerdings auch Kritik hervor. Trotz der bedeutenden Anzahl der französischen Anhänger der Lehre Barths wird dessen Werk seit seinem Tode im Jahre 1968 zuweilen infrage gestellt.

Die Aufnahme in studentischen Kreisen

Der Allgemeine Dachverband der Vereinigungen christlicher Studenten (Fédération universelle des associations chrétiennes d’étudiants, FUACE) und sein französischer, seinerzeit von dem Pastor Jean Bosc (1910-1969) geleiteter Ableger, der Dachverband der Vereinigungen christlicher Studenten Frankreichs (Fédération française des associations chrétiennes d’étudiants = “Fédé”) haben bei der Verbreitung und Aufnahme des Werkes von Karl Barth in Frankreich eine bedeutende Rolle gespielt.

Die FUACE war 1895 im Rahmen des CVJM (Christlicher Verein junger Menschen) von dem US-Amerikaner John Mott gegründet worden, dessen Ziel es war, die akademische Welt zu evangelisieren und die Studenten auf ein gesellschaftliches Leben in christlicher Verantwortung vorzubereiten. Dank ihrer internationalen Kontakte wurde die FUACE schon bald zum Motor der ökumenischen Bewegung. Ab 1925 war der niederländische reformierte Pastor Willem Visser ‘t Hooft (1900-1985) ihr Generalsekretär in Genf. 1948 wurde er zum Ersten Sekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen ernannt.

Viele später prominent gewordene Frauen und Männer wurden auf den nationalen und auch internationalen Zusammenkünften der überkonfessionellen christlichen Bewegung mit dem ökumenischen Gedanken vertraut gemacht und knüpften enge freundschaftliche Bande auch außerhalb ihres Heimatlandes. Das war zum Beispiel der Fall einiger der Wortführer der Bekennenden Kirche in Deutschland, aber auch der russisch-orthodoxe Religionsphilosoph Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874-1948) ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Man kann sagen, dass die FUACE den Aufbau eines engen Netzes internationaler Verbindungen ermöglicht hat, das in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu der notwendigen Aussöhnung der Völker und zu einer stetig wachsenden Zusammenarbeit in ökumenischem Geiste beitrug. Der Bezug auf die Theologie Karl Barths war hier von grundlegender Bedeutung, was vor allem auf den Einfluss von Suzanne de Dietrich (1891-1981) zurückging, die in der Zwischenkriegszeit über die FUACE die Verbreitung seiner Schriften in Frankreich vorangetrieben und die Bewegung der Biblischen Erneuerung ins Leben gerufen hatte.

Das Wirken des Pastors Pierre Maury

Karl Barth und Pierre Maury © Collection Privée

Der Pastor Pierre Maury, der von 1919 bis 1925 die Fédé als Generalsekretär geleitet hatte, hatte sich während seines Kirchendienstes in Ferney-Voltaire mit den Frühschriften von Karl Barth vertraut gemacht. Seit dieser Zeit verband die beiden Theologen eine sich ständig vertiefende persönliche Freundschaft und theologische Zusammenarbeit. In der Folgezeit verbreitete Maury die Lehre Barths auf die ihm eigene, pastorale Weise in seinem jeweiligen Umfeld : in Genf arbeitete er an der Seite von Visser ‘t Hooft in der FUACE (1931-1935) und daraufhin an der Seite von Marc Bœgner als Pastor der Gemeinde von Passy-Annonciation in Paris (1935-1956) ; auch war er von 1943 bis 1950 Dozent für Dogmatik an der Pariser Fakultät für protestantische Theologie.

Maury veröffentlichte zahlreiche ins Französische übersetzte Schriften Barths, sowohl im protestantischen Verlag Je sers [Ich diene] als auch in der Zeitschrift Foi et Vie [Glaube und Leben], deren Chefredakteur er von 1930 bis 1939 gewesen war. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Maury durch seine Predigt, seine Unterweisung und seine Veröffentlichungen mehrere Generationen von Pastoren und Gemeindehelfern der französischen protestantischen Kirchen im Geiste Karl Barths geprägt hat. Auf seine persönliche Vermittlung hin gingen einige von ihnen sogar nach Basel, um direkt bei Barth zu studieren, darunter Georges Casalis, André Dumas und Henri Hatzfeld.

Als Vertreter der Theologie Karl Barths in Frankreich wurde Pierre Maury auch von einigen katholischen Theologen wie dem Pater Yves Congar angesprochen.

In der Zwischenkriegszeit

Brief von Karl Barth anlässlich des Todes von Pfarrer Pierre Maury © Collection privée

Die 1930er Jahre waren von einer theologischen Unruhe gekennzeichnet, die größtenteils von Karl Barth ausgelöst worden war, sich aber auch am Kampf der Bekennenden Kirche in Deutschland und an der Herausbildung der faschistischen Bewegungen in Europa entzündet hatte.

Eines der klarsten Zeugnisse dieser gärenden Unruhe war die Zeitschrift Hic et Nunc (lat. : “Hier und Jetzt”), die von November 1932 bis 1936 in elf Lieferungen erschien. Die Redakteure dieser provokanten Hefte waren einige junge und kämpferische “Barthisten”, darunter Roland de Pury, Roger Breuil, Henri Corbin, Denis de Rougemont und Albert-Marie Schmidt, die zur selben Zeit die Philosophie des Existentialismus anhand der Schriften von Søren Kierkegaard (1813-1855), Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) und Martin Heidegger (1889-1976) für sich entdeckten. In ihren Beiträgen zu dieser Zeitschrift geißelten sie die Übel ihrer Zeit, die für sie besonders in der Aggressivität der gesellschaftlichen Kräfte, der Gewalttätigkeit der Obrigkeiten, den Ungerechtigkeiten der Justiz, dem Verrat an der Solidarität und dem Abkoppeln der sozial Hilfsbedürftigen bestanden. Es sollte nicht vergessen werden, dass die westliche Zivilisation zu dieser Zeit unaufhaltsam auf den Zweiten Weltkrieg zutrieb und von widersprüchlichen politischen und gesellschaftlichen Leitbildern beherrscht war.

Nach 1945

Während des Zweiten Weltkrieges war Karl Barth, der im Dezember 1939 und danach noch einmal auf dem Höhepunkt des “Operettenkriegs” (Drôle de guerre, 1940) zwei Briefe an die Protestanten Frankreichs veröffentlicht hatte, eine unbestrittene Autorität. Als sich aber die Lage nach der Kapitulation Deutschlands entschärfte, ließ die Aufmerksamkeit, die seinem Werk bis dahin zuteil geworden war, etwas nach.

Als Pierre Maury 1956 frühzeitig starb, standen seine Schüler bereits seit langem im Kirchendienst und hatten nicht immer die Zeit, die rasch aufeinanderfolgenden Übersetzungen von Barths Kirchlicher Dogmatik umfassend zur Kenntnis zu nehmen. Die Debatte löste sich von den von Barth selbst vorgebrachten Argumenten und verflachte zur Polemik : die einen bezeichneten sich als Barthisten, die andern als Antibarthisten, und man warf sich gegenseitig vor, zu den einen oder zu den andern zu gehören. Diese Haltung lässt sich durchaus mit der vorschnellen politischen Etikettierung von “links” und “rechts” vergleichen. In diesem Fall zog sie das öffentliche Bild der Kirche in politisches Fahrwasser.

In einer vom Ost-West-Konflikt und den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt geprägten Zeit schien der ethische Anspruch, den Karl Barth nach wie vor entschieden vertrat, einer Neuformulierung zu bedürfen. Zu besonderen Spannungen kam es in Frankreich anlässlich des Algerienkrieges (1954-1962).

Unabhängig davon wandten sich gewisse französische Theologen von der Barthschen Dogmatik ab, da ihnen diese in ihrem kompromisslosen Bekenntnis als zu autoritär und der römisch-katholischen Lehre als zu nahestehend vorkam. Auf der anderen Seite erschien es als beunruhigend, dass die von Barth und Bonhoeffer vorgebrachte Kritik des Religiösen von denjenigen aufgegriffen wurde, die den “Tod Gottes” beschworen.

Was bleibt, ist die Debatte über das Meisterwerk des Dogmatikers Karl Barth.

Bibliographie

  • Bücher
    • BARTH Karl et MAURY Pierre, Nous qui pouvons encore parler, Correspondance éditée par REYMOND Bernard (1928-1956), L'Age d'Homme, Lausanne, 1985
    • VISSER'T HOOFT Willem Adolf, Le temps du rassemblement, mémoires, Le Seuil, Paris, 1975

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