Die erste Fluchtbewegung
Eine erste Ausreisewelle, die „Erstes Refuge“ genannt wird, hat schon im 16. Jahrhundert begonnen. Gleich nach den ersten Verfolgungen von 1560 und besonders nach der Bartholomäusnacht verlassen Flüchtlinge das Königreich in Richtung Genf, England oder die Vereinigten Provinzen. Im letzteren Land finden sie weitere Flüchtlinge, französischsprachige Flamen, die die ersten wallonischen Kirchen gegründet hatten. Eine französische Diaspora entsteht.
Calvin ermutigt zu diesem Aufbruch im Namen der Religion („diejenigen, die glauben, nicht die Kraft zu haben ihren Glauben zu bezeugen, sollen auswandern“). Théodore de Bèze spricht von der „universellen Nähe des Himmels, da niemand eine ständige Wohnstatt hat“.
Die große Fluchtbewegung
Nach dem Edikt von Nantes (1598) nimmt die Auswanderung stark ab, einige Emigranten kehren sogar nach Frankreich zurück. Aber jede Krise (die Einnahme von La Rochelle 1628, die Dragonaden im Poitou 1681) führt zu neuer Auswanderung, obwohl ein königlicher Erlass (von 1669 – 1682 erneuert und 1686 erweitert auf die Neu-Konvertierten) ihnen untersagt, sich „im Ausland niederzulassen“. Der Verlauf der Abwanderungszahlen erreicht seinen Höhepunkt 1685 anlässlich der Widerrufung des Edikts von Nantes, nimmt dann ab während des Krieges der Augsburger Liga (1688-1697) und steigt nach dem Scheitern des Kamisarden-Krieges (1702-1704) wiederum an. Einige wandern noch nach dem Tod von Ludwig XIV. (1715) aus, da die Regentschaft nichts an der Gesetzgebung geändert hat und die Verfolgungen nicht aufgehört haben. Zu den drei ersten Ländern der Fluchtbewegung kommt Deutschland hinzu, besonders das Kurfürstentum Brandenburg (das künftige Preußen) und das von Hessen-Kassel, die das Übermaß der in Holland und besonders der Schweiz und Genf durchziehenden Flüchtlinge anzogen. Es lässt sich auch Auswanderung in die skandinavischen Länder und sogar nach Russland feststellen. Die Heldengeschichten zum Kap der Guten Hoffnung und in die englischen Kolonien der Neuen Welt sind oft erzählt worden.
Diese zweite Welle macht die sogenannte Große Fluchtbewegung aus: von 1680 bis 1715 verlassen 180.000 Franzosen ihr Land und bilden damit die größte Auswanderungsbewegung der modernen französischen Geschichte.
Die Fluchtwege
Über 100.000 Personen haben zwischen 1685 und 1687 die Grenzen überschritten.
Ab 1669 untersagt Ludwig XIV. die Auswanderung der Reformierten, ein Verbot, das im Widerrufungsedikt selbst noch einmal erneuert wurde: die dabei festgenommenen Männer wurden auf die Galeeren geschickt und die Frauen ins Gefängnis. Die Fluchtwege wurden überwacht.
Das Meer, von den Häfen Bordeaux, La Rochelle, Dieppe und Rouen aus, ist leicht zu überqueren, Boote kommen die Flüchtlinge holen und bringen sie zu englischen, holländischen oder dänischen Schiffen, die weit draußen ankern. Die Schiffe fahren mit einigen offiziellen Passagieren los, den Pastoren, und vor allem mit zahlreichen blinden Passagieren, die unten in den Laderäumen unter schrecklichen Bedingungen reisen, nachdem sie den Schleppern große Summen bezahlt haben. Oft scheitern die Fluchtversuche an Denunzierungen.
Die Normandie, von den Häfen Dieppe und Rouen aus, sieht das größte Kontingent vorbeiziehen, da die Nähe der englischen Häfen und der normannischen Inseln die Überfahrt erleichtert.
Die aus dem Süden Kommenden fahren manchmal nach Bordeaux, von dort aus nach England, manchmal in die Neue Welt. Die meisten besteigen Schiffe in Marseille oder Nizza, fahren nach Genua und ziehen von dort auf dem Landweg weiter nach Turin und dann nach Genf.
Der Landweg wurde von zahlreichen Hugenotten aus dem Dauphiné, dem Vivarais, den Cevennen, dem Languedoc, der Provence gewählt sowie aus den Städten des sich unter französischer Herrschaft befindenden Piémont. Sie flüchten in die französischsprachigen Schweizer Kantone, die Genfer Republik, das Fürstentum Neuchâtel. Die Protestanten aus Burgund, der Champagne und Lothringen flüchten in die rheinischen Länder. Die Fluchtwege stoßen auf natürliche Grenzen, besonders die Rhône, da Brücken selten sind. Auf dem Weg nach Lausanne ist das Gebirgsmassiv Jura schwer zu überqueren. Montbéliard ist französisch und über die Schluchten des Doubs führen nur wenige Brücken. Die Wege werden stark überwacht, aber „mit Geld überquert man die Rhône überall“, bezeugt ein Schiffer.
In Lyon, einem wichtigen Übergangsort, ist es leicht, in der Großstadt unterzutauchen, für Geld einen – mehr oder weniger verlässlichen – Schlepper zu finden und eine Gelegenheit abzuwarten. Ausländische Geschäftsleute kommen sogar bis auf die Jahrmärkte, um Flüchtlinge in ihre Obhut zu nehmen und nach Lyon zu bringen. Sie wandern nachts, verstecken sich tagsüber, verkleiden sich als Bettler, Hausierer oder Rosenkranzverkäufer. Sie verstellen sich als Kranke, Stumme, Verrückte. Viele sterben vor Hunger, Erschöpfung und Kälte. Das alles ist riskant, Verhaftungen mit anschließender Verurteilung zur Galeere häufig, die Schlepper können gehängt werden. Handschriftliche Anleitungen geben die Reisewege und die Übergangsorte an, manchmal auch die Personen, die man um Hilfe bitten kann.
Die Nordgrenze birgt zahlreiche Fallen aufgrund der verwickelten und wechselnden Aufteilung zwischen den von französischen oder holländischen Garnisonen besetzten Orten. Die Flüchtlinge, die gefasst werden, müssen sich bekehren, um befreit zu werden. Sie reisen als Einzelpersonen oder in kleinen Gruppen von Verwandten, Freunden oder Nachbarn und oft flüchten die Männer zuerst, um den Aufnahmeort vorzubereiten, Frauen und Kinder folgen später.
Die Flüchtlinge finden oft in den europäischen Städten einen Cousin oder Nachbarn, vor allem die der „zweiten Generation“. Nach ihrer Ankunft im fremden Land haben die Hugenotten die Pflicht, den Gottesdienst zu besuchen und der Predigt beizuwohnen.
Da die meisten gezwungen worden waren, sich in Frankreich zum Katholizismus zu bekehren, müssen sie am Ende einer öffentlichen Zeremonie, in der sie ihre Schuld „bekennen“, „versöhnt“ werden.
Die Aufnahme in den Zufluchtsländern
Die gemeinsame Religion erleichtert eine bestmögliche Aufnahme. Überall erlebt man Mitleidsbezeugungen und große Hilfsbereitschaft.
Verschiedene Verwaltungsstrukturen werden geschaffen, besonders in der Schweiz, um auf die unmittelbaren Bedürfnisse dieser Flüchtlinge einzugehen, deren materielle Lage sehr oft ans Elend grenzt: Unterkünfte, Transport, direkte finanzielle Hilfe. Um Geld zu sammeln, organisieren die Gemeinden Gebetstage und Lotterien. Aber wenn die Last als zu schwer empfunden wird, werden die Flüchtlinge ermutigt, manchmal auch gezwungen, andere Zufluchtsorte zu finden: so sind Holland und die Schweiz vor allem Übergangsorte, die die Flüchtlinge auffordern, in die deutschen Länder weiterzureisen, wo die Aufnahmebedingungen günstiger sind.
Aber es fehlte nicht an Spannungen und im Gegensatz zu einer beschönigenden protestantischen Geschichtsschreibung war die Flucht nicht immer eine gute, abenteuerliche Erfahrung. Nachdem die erste Gemütsregung vorbei war, wurde die Last der Emigration immer schwerer und die öffentliche Meinung war nicht immer verständnisvoll: Angst vor der Konkurrenz für die Kaufleute und Handwerker, Neid auf die Steuerbefreiung oder auch kulturelle Gegensätze: zum Beispiel schätzten die Protestanten des Nordens nicht immer die mitteilungsbedürftigen Südländer.
Die Anzahl der Flüchtlinge und der Zufluchtsländer
Die Anzahl der Flüchtlinge am Ende des 17. Jahrhunderts zu schätzen gestaltet sich schwierig. Einige Zahlen sind aus der Luft gegriffen und gehen bis zu zwei Millionen. Voltaire schätzt sie auf 800.000. Die Hugenotten neigen dazu, sie heraufzusetzen, die Katholiken dazu, sie auf 50.000 zurückzuschrauben, und sei es nur, um die Bedeutung zu schmälern, die sie auf das berufliche Leben der Bevölkerung des Königreichs hatte. Die Zahl von 160.000 bis 200.000 wird heutzutage allgemein anerkannt, das heißt 25% der auf 800.000 geschätzten protestantischen Bevölkerung. Man denke an den Sonderstatus der Pfarrer, die die Wahl hatten zwischen Bekehrung und Exil, während das letztere den Gläubigen untersagt war. 80% der Pfarrer gingen ins Exil.
Je nach Zufluchtsland können folgende Zahlen festgehalten werden:
*Die Schweiz und Genf: 60.000 Reformierte, besonders aus Südfrankreich, sollen über die Schweiz ausgereist sein, wo ihnen großzügig geholfen wurde. Der Hauptübergangsort ist Genf. Nur 20.000 sollen sich dort niedergelassen haben.
*Die Vereinigten Provinzen: erstes Zufluchtsland wegen der leichten Zugänglichkeit, einer jahrhundealten freiheitlichen Tradition, wegen der Aufnahmestrukturen mit den wallonischen Kirchen werden 70.000 dort aufgenommen, aber es ist schwierig auszumachen, wie viele dort blieben, da Amsterdam genauso wie Frankfurt eine Drehscheibe der Fluchtbewegung darstellt.
*England: 40.000-50.000 aufgenommene Hugenotten, die aus den am Meer gelegenen Provinzen stammten. Die bei der ersten Fluchtbewegung im 16. Jahrhundert gegründeten Kirchen wurden unter Marie Tudor verfolgt, hatten aber unter Elisabeth ihre Rechte wiedererlangt.
*Deutschland: etwa 44.000 Hugenotten ließen sich dort endgültig nieder, vor allem in den calvinistischen Fürstentümern: 20.000 in Brandenburg, dessen Kurfürst das Edikt von Potsdam veröffentlicht hatte (1685) und das besonders attraktiv ist, Hessen-Kassel, dessen Landgraf schon im April 1685 ein Aufnahmeedikt mit Privilegien erlassen hatte, aber auch die Pfalz und die Grafschaft Lippe. Später, unter dem Druck der Flüchtlinge, akzeptieren auch die lutherischen Länder, sie aufzunehmen: Bayreuth, Hessen, Darmstadt oder Städte: Stuttgart, Nürnberg.
Andere Hugenotten, deutlich in der Minderzahl, ließen sich weiter entfernt nieder: in den protestantischen Ländern Nordeuropas (Dänemark, Norwegen, Schweden) bis hin nach Sankt Petersburg und in Übersee, in Südafrika oder in den britischen Kolonien Nordamerikas.
Rückkehrer sind sehr selten. Ludwig XIV. misstraute den Neubekehrten, die Unordnung im gerade kriegführenden Frankreich schaffen könnten. Die konfiszierten Güter werden einem königlichen Budget zugeschlagen, ihre Einkünfte sollen der Entwicklung des Katholizismus dienen (Schulen, Kirchen, Krankenhäuser), aber die Ergebnisse sind enttäuschend: entweder sind sie vor der Ausreise verkauft worden oder es handelt sich um fiktive Verkäufe an Verwandte oder vertrauenswürdige Freunde, die ihren die entsprechenden Einkünfte weiterleiten sollten. Es gab unzählige Prozesse, die Verwaltung war kompliziert und insgesamt waren die Gewinne aus dieser Plünderung nicht der Rede wert.
Die Folgen für die Aufnahmeländer
Die Fluchtbewegung der Hugenotten ist ein zentrales Ereignis der europäischen Geschichte, das die Wandlungen Europas am Ende des 17. Jahrhunderts und während des ganzen 18. Jahrhunderts mitgestaltet hat.
Sie spielt eine entscheidende Rolle in der „Krise des europäischen Bewusstseins“ in den Jahren vor der Aufklärung. In religiöser Hinsicht hat die Fluchtbewegung das Gleichgewicht zwischen Luthertum und Calvinismus gefördert.
Der Beitrag der Fluchtbewegung auf die Wirtschaft der Aufnahmeländer ist eine Konstante der protestantischen Geschichtsschreibung. Der demographische Zuwachs kompensierte die während des Dreißigjährigen Krieges erlittenen Verluste und die weniger entwickelten Länder Deutschlands haben von der Kapitalzufuhr und dem technischen Können der Leute profitiert, die aus einem sehr viel weiter entwickelten Land kamen.
Die Ankunft von qualifizierten Handwerkern hat die Aktivität in zahlreichen Sektoren wiederbelebt, besonders in der Textilherstellung und im Uhrmachergewerbe wie in der Schweiz.
Der Handelsaustausch hat sich vervielfacht, wie der Reichtum der Bürger Amsterdams bezeugt. Aber die Belastung durch die Einwanderung aufgrund der Übernahme der Kosten für die Flüchtlinge wurde schnell drückender, die Konkurrenz dieser neuen Handwerker wurde als gefährlich empfunden und die öffentliche Meinung akzeptierte die den Flüchtlingen gewährten Erleichterungen nicht. Es ist schwierig, diesen wirtschaftlichen Beitrag quantitativ einzuschätzen.
Der kulturelle Beitrag hingegen war unbestreitbar. Die französischen Hugenotten haben eine Mittlerrolle zwischen ihrem Aufnahmeland und ihrer Heimat gespielt. Die intellektuelle Elite, die sich für das Exil entschieden hat, bemüht sich, den Kontakt mit der Kultur des Vaterlandes aufrechtzuerhalten. Begünstigt durch die Diaspora entstehen Kanäle für Austausch und Einflussnahme. In Holland wie auch in der Schweiz und England fördert und verbreitet das blühende Verlagswesen die französische Sprache als Kultursprache. Die Hugenotten haben dazu beigetragen, Französisch zur meistgesprochenen wissenschaftlichen Sprache Europas zu machen. Zeitschriften und literarische und politische Zeitungen werden auf französisch geschrieben. Zahlreiche Buchhändler sind Flüchtlinge, ehemalige Mitglieder der Freien Berufe oder des Lehrkörpers.
All diese Aspekte bilden eine Art gelehrtes kosmopolitisches Denken, die „Republik der Gelehrten“. Die Hugenotten sind Teil der Opposition gegen Ludwig XIV. und gegen das Prinzip des Absolutismus überhaupt.
Dieser Austausch trägt meist verbotenen Charakter. Bücher und Zeitschriften werden heimlich ausgetauscht, Schmuggelwege werden organisiert, die es ermöglichen, die verbotenen Bücher an die in Frankreich verbliebenen Protestanten weiterzuleiten:
kritische Ausgaben des Alten und Neuen Testaments, Katechismen, Predigten, historische Studien; diese vor allem für die südfranzösischen Protestanten bestimmten Bücher werden in der Schweiz, in Genf und Lausanne gedruckt.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Fluchtbewegung den Gegensatz zwischen dem katholischen Südeuropa und dem protestantischen Nordeuropa verstärkt hat.
Die Assimilation
Viele Flüchtlinge von 1685 haben lange gehofft, dass Ludwig XIV. das Edikt von Nantes wieder herstellen würde. Der Friede von Ryswick, der den Krieg der Augsburgischen Liga (1688-199) beendete, stellte eine Enttäuschung dar: es gab zwar Verhandlungen, aber Ludwig XIV. lehnte kategorisch jeden Gedanken an eine Rückkehr ab, es sei denn nach Bekehrungen, die sehr selten waren. „Die protestantischen Mächte zogen es vor, territoriale Vorteile auszuhandeln, anstatt ihre Glaubensgenossen zu verteidigen.“
Das Exil war endgültig. Die Schwächsten und Ärmsten wurden zu Entwurzelten, Außenseitern, die bis zu ihrem Tod von Kirche zu Kirche zogen. Die anderen Flüchtlinge werden nach und nach assimiliert, heiraten Einheimische. Wenn auch die französische Sprache in den Familien, die unter sich bleiben, fromm bewahrt wird, so verändert sich die Sprache doch und entfernt sich vom klassischen Modell. Voltaire spricht vom „Flüchtlingsstil“ – die Sprache wird germanisiert und anglizisiert. Sie wird in einigen Gemeinden weiter genutzt und die Gesellschaften zur Erforschung der hugenottischen Geschichte begünstigen diese „Rückkehr zu den Quellen“.
Zur Zeit der Revolution bietet das königliche Edikt vom 15. Dezember 1790 den hugenottischen Flüchtlingen die Möglichkeit, nach Frankreich zurückzukehren, indem sie wieder die französische Staatsbürgerschaft annehmen und wieder in den Besitz ihrer Güter kommen. Die Zahl derer, die die Möglichkeiten dieses Edikts genutzt haben, war sehr klein, der bekannteste war Benjamin Constant. Dieses Gesetz blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft.
Schlussfolgerung
Der Widerruf des Edikts von Nantes stellt wirklich einen bedeutenden Einschnitt in der europäischen Geschichte dar. In dem Augenblick, wo der Sonnenkönig auf dem Gipfel seiner politischen Macht angekommen ist, verliert Frankreich einen Großteil der Kräfte, die seinem wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt dienen, was Michelet als die „Elite Frankreichs“ bezeichnen wird. Alle diese Flüchtlinge geben ihren Aufnahmeländern einen neuen Anschub in allen Bereichen und drücken dem kollektiven Gedächtnis mehrere Generationen lang ihren Stempel auf.