Gesellschaftliche Duldung
In Frankreich wurden die Protestanten nach und nach geduldet, aber der Grad der Toleranz war von Region zu Region verschieden. Am deutlichsten bemerkbar war dieser Wechsel zuerst im Languedoc, dann im Dauphiné, im Poitou und in der Saintonge. In der Normandie ließ er bis 1780 auf sich warten.
Im Südwesten des Landes kam es noch zu einigen unter Zwang vorgenommenen katholischen Nachtaufen von bereits in der “Wüste” getauften Kindern.
Aber die Protestanten wurden nur noch selten verfolgt, ihre Pastoren nur noch vereinzelt verhaftet und Kinder nicht mehr so oft wie zuvor ihren protestantischen Eltern entrissen.
In der Tat fällten die Gerichte ab 1760 zahlreiche Urteile, kraft derer die Kinder von lediglich in der “Wüste” verheirateten (und daher offiziell als ledig geltenden) Protestanten in ihre vollen Erb- und Rechtsansprüche eingesetzt wurden. Danach verschwand auch der Vermerk “unehelich geboren” allmählich aus den katholischen Taufregistern.
Zu einer zivilrechtlichen Anerkennung der “Nichtkatholiken” kam es in Frankreich jedoch erst durch das Toleranzedikt von 1787.
Entwicklung des öffentlichen Gottesdienstes im Untergrund
Von 1760 bis 1787 nahmen die reformierten Unterkirchen langsam wieder Form an. Diese Entwicklung vollzog sich jedoch hinsichtlich des öffentlichen Gottesdienstes und des kirchlichen Lebens auf Landesebene nicht einheitlich. Die Lage der Protestanten unterschied sich je nach der Region, in der sie lebten. Noch waren nicht alle Kirchengemeinden in Synodalbezirken erfaßt. Die Großstadtgemeinden – wie zum Beispiel diejenigen von Bordeaux, La Rochelle oder Caen – behielten ihre Eigenständigkeit. Wenn die Provinzialsynoden auch schnell wieder normal arbeiteten, so war es doch erheblich schwieriger, eine Nationalsynode zu organisieren.
In Paris hatten die diplomatischen Vertretungen der protestantischen Länder das Recht, in ihren Botschaftskapellen Gottesdienste abzuhalten. Trotz polizeilicher Überwachungsmaßnahmen nahmen daran auch viele französische Protestanten teil.
Die Reformierten im Süden des Landes hielten ihre Versammlungen nach wie vor in der “Wüste” ab, aber sie mußten hierzu keine umständlichen Vorsichtsmaßnahmen mehr treffen.
Im Südwesten wurden die Bethäusern [maisons d’oraison] um 1770 immer zahlreicher. Dort konnten sich die Protestanten – in der Regel im Beisein eines Pastors – unbehelligt versammeln.
In den Städten standen die “Gesellschaftsgottesdienste” [cultes de société] in der Gunst der angesehenen und einflußreichen Protestanten. Überall aber wurden Familienandachten abgehalten, was die zahlreichen und weit verbreiteten Drucke der reformierten Andachtsordnung bezeugen.
1778 bestanden in Frankreich 472 protestantische Kirchengemeinden, von denen sich die meisten im Süden – und weniger in der Landesmitte und im Norden – befanden.
Die Pastoren konnten endlich ihr unstetes Leben als Wanderprediger aufgeben und am Ort ihrer Amtstätigkeit seßhaft werden. 1770 wurden die Gemeinden von etwa hundert Pastoren betreut ; 1788 waren es bereits 180.
Court de Gebelin, der Sohn Antoine Courts, stellte sich ganz in den Dienst der Untergrundgemeinden, von denen er zum Verbindungsmann [correspondant] der reformierten Kirchen Frankreichs zu den protestantischen Mächten und den einheimischen Obrigkeiten gewählt worden war.
Einfluß der Aufklärung auf das protestantische Denken
In gesellschaftlicher Hinsicht änderte sich die Zusammensetzung der Kirchen etwas : die städtischen Honoratioren wurden Mitglieder der Konsistorien, was eine gewisse Verbürgerlichung der Gemeinden nach sich zog.
Auch erhielten die am Predigerseminar von Lausanne studierenden zukünftigen Pastoren eine immer gründlichere Ausbildung auf dem Gebiet der Theologie, der alten Sprachen und der Philosophie, die zu jener Zeit ganz vom Geiste der Aufklärung geprägt war.