Die Ideen Luthers breiten sich im Elsaß aus
Im Elsaß, das bis 1648 zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte, fanden die in den 1520er Jahren verfaßten Frühschriften Martin Luthers sofort ihr Publikum. Die bedeutendsten Straßburger Buchdrucker, die bis auf wenige Ausnahmen allem Neuen aufgeschlossen gegenüber standen, verbreiteten reformatorische Abhandlungen und evangelische Streitschriften, und namhafte Prediger wie Matthias Zell, ein Meßpriester des Straßburger Münsters, begeisterten große Menschenmengen mit der neuen Lehre. Eifrige Theologen und und anerkannte Exegeten wie Wolfgang Capito, Kaspar Hedio und Martin Bucer trugen die reformatorische Bewegung bis in die Kreise des Handwerks und des Kleinbürgertums hinein : Martin Bucer wurde zum Beispiel 1524 zum Pastor und Prediger von Sankt Aurelien, der Gemeinde der Gemüsegärtner, berufen. Die Mehrheit des Großen Kapitels sowie die Stiftsherren von Jung-Sankt Peter und Alt-Sankt Peter und viele traditionell gestimmte Geistliche waren sich zwar in der Ablehnung der Reformation einig, aber der Bischof von Straßburg, Wilhelm von Honstein, schaffte es dennoch nicht, das Verlangen nach Veränderung zu unterdrücken.
In Straßburg wird die neue protestantische Kirche der Aufsicht des Magistrats unterstellt
Zwischen 1523 und 1525 wurden tiefgreifende Neuordnungen eingeführt : die Straßburger Stadtregierung (“Magistrat”) bemächtigte sich weiter Teile der bisher der Kirche überlassenen Verantwortungsbereiche : sie erließ Gesetze zur Form und zum Inhalt der Predigten, setzte künftig die Seelsorger der sieben Stadtgemeinden selbst ein und übernahm die Verantwortung für die Diakonie, genauer das Armenwesen.
Ein Aufstand wird blutig niedergeschlagen
Während dieser Jahre schloß sich ein Teil der elsässischen Landgemeinden, die zuvor zur Reformation übergetreten waren, den Forderungen des Bundschuh an, einer Bewegung aufständischer Bauern aus Südwestdeutschland. Die Zwölf Artikel des schwäbischen « Bauernkanzlers » Wendelin Hippler, der insbesondere für das Recht der Gemeinden eintrat, ihre Pastoren selbst auswählen und auch selbst absetzen zu können, wurden von weiten Kreisen der Bauernschaft im Nieder-Elsaß (nördlich von Straßburg) begeistert aufgenommen. Diese Revolte wurde vom Herzog Anton von Lothringen blutig niedergeschlagen : vor den Toren von Saverne (Zabern), dem Hauptstützpunkt der Rebellen, kam es zu einem Gemetzel von Tausenden von Bauern (“Bauernschlachten bei Lupstein”).
In Straßburg wird die Messe abgeschafft
Nach 1525 kam es zu einer fortschreitenden Gründung von evangelischen Landeskirchen, die der Hoheit der Fürsten oder der städtischen Magistrate unterstellt wurden. Die Jahre zwischen 1526 und 1547 waren besonders für die Straßburger Reformation eine ereignisreiche und zukunftsweisende Zeit. 1529 untersagte der Magistrat auf überwältigendes Verlangen der Einwohnerschaft die katholische Messe ; ein Bildersturm fegte unverzüglich die Devotionalien (Gemälde, Statuen, Reliquien, Kruzifixe, geweihte Kultobjekte) aus den Kirchen und es kam zu etlichen Ausschreitungen unter dem Handwerksvolk. Doch bald danach setzte ein ruhigeres Nachdenken über den liturgischen und geistlichen Sinn gewisser bildlicher und festlicher Traditionen ein, zum Beispiel hinsichtlich der Weihnachtsfeier (Kinderkrippen).
Eine protestantische Kirche auf dem theologischen Mittelweg
1530 stellten die Lutheraner auf dem Reichstag von Augsburg ihr Augsburger Bekenntnis vor, ein Glaubensbekenntnis, das ihre religiösen Überzeugungen zusammenfaßte. Die Straßburger Protestanten übernahmen dieses nicht in allen Punkten ; sie beschritten bezüglich der Abendmahlsfrage vielmehr einen theologischen Mittelweg zwischen der Lehre Zwinglis (Symbolismus) und derjenigen Luthers (Realpräsenz). Außer Straßburg schlossen sich die Städte Konstanz, Lindau und Memmingen diesem Glaubensbekenntnis an (Confessio Tetrapolitana oder “Vierstädtebekenntnis”). Diese vermittelnde, gemäßigte und am Gemeinwohl orientierte Haltung kennzeichnet die rheinische Reformation, die die biblische Kultur und eine verinnerlichte Frömmigkeit in den Vordergrund stellt. Die Kirchenordnung von 1534 ist hierfür ein gutes Beispiel : sie ermuntert die Gläubigen dazu, innerhalb der evangelischen Kirchengemeinden Bibelkreise, Gebetszirkel und Andachtsgruppen ins Leben zu rufen. Der Magistrat untersagte jedoch später dieses urkirchliche Experiment aus Furcht vor religiösen Abweichlern und Eiferern. Die Straßburger Kirche gab sich eine liturgische, kirchliche und doktrinäre Sonderverfassung : alle zwei Monate traten die Pastoren zur Vollversammlung zusammen, zu der auch drei Vertreter des Magistrats, Kirchenpfleger genannt, geladen wurden, um gemeinsam über anstehende Fragen der pastoralen Amtsführung und der religiösen Lehre zu beraten.
Die Ausstrahlung des Straßburger Protestantismus
Durch die gute Ausbildung der protestantischen Geistlichkeit wurden auf dem Gebiet des religiösen Unterrichts und der Seelsorge beste Fortschritte gemacht. 1538 wurde unter der Leitung des Humanisten Johannes Sturm in Straßburg eine Oberschule (“Gymnasium”, heute Lycée Jean Sturm) gegründet, in der schon bald die geistige Elite des Nieder-Elsaß herangezüchtet wurde. Die Ausstrahlung des Straßburger Protestantismus zeigt sich auch darin, daß Martin Bucer die Hessische Kirchenordnung von 1539 verfaßte sowie auch diejenige für das kurfürstliche Köln, deren Gottesdienstregeln dann auch von den Verfassern des Book of Common Prayer (1549) der englischen Kirche übernommen wurden. Zu dieser Zeit war Straßburg ein sicherer Zufluchtsort für unterdrückte oder verfolgte Protestanten aus ganz Europa und um 1540 besonders für die hugenottischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich : Jean Calvin hielt sich von 1538 bis 1541 in der Stadt auf, und seine Kirchlichen Verordnungen (Ordonnances ecclésiastiques) sind stark von der Lehre Martin Bucers beeinflußt.
Die Radikalreformer werden in Sraßburg aufgenommen und wieder verjagt
Das Scheitern der Bauernrevolten begünstigte nach 1525 das Entstehen evangelischer Radikalbewegungen, und Straßburg wurde zu einem der Sammelpunkte der Täufer. Bucer und Capito nahmen deren Umtriebe bis 1532 hin ; 1534 wurden die Täufer, die besonders unter den Handwerkern starke Unterstützung gefunden hatten, jedoch endgültig aus der Stadt verjagt ; die meisten von ihnen ließen sich daraufhin im Münstertal im Ober-Elsaß (südwestlich von Straßburg) nieder.
Fürsten und Magistrate regieren die Kirche
Trotz des von Kaiser Karl V. 1548 verhängten Augsburger Interims, das im Reich die Rückkehr zu den Traditionen der katholischen Kirche forderte, hielt das Elsaß an den meisten seiner evangelischen Neuerungen fest. In der Mitte des 16. Jahrhunderts eigneten sich die Fürsten und städtischen Magistrate die ehemals den Bischöfen zustehenden Rechte an, was ihnen im Augsburger Religionsfrieden (1555) auch offiziell zugestanden wurde. Fürsten und Magistrate übernahmen die Verantwortung gleichermaßen für das weltliche und religiöse Leben ihrer Untertanen : sie beriefen die Pastoren, nahmen Kirchenvisiten vor, erließen Gesetz bezüglich des Kultus und machten von ihrem Recht Gebrauch, ihr religiöses Bekenntnis für ihre Untertanen als verbindlich zu erklären.
Das Luthertum
1577 kam es auf Betreiben von Johann Marbach zur Annahme der Konkordienformel, die die Straßburger Protestanten auf die Einhaltung der wesentlichen Elemente der lutherischen Glaubenslehre verpflichtete.