Der Zustrom lutherischer Handwerker
Nach dem Tode von Louis XIV. (1715) kehren Höflinge und Hochadlige aus Versailles nach Paris zurück und richten sich dort häuslich ein. Dazu benötigen sie erfahrene Handwerker : Elsässer und Deutsche, von denen die meisten Lutheraner sind, machen sich in die Hauptstadt auf.
Unter ihnen befinden sich Schreiner wie Oeben, Riesener und Bennemann, die zu königlich privilegierten Kunsttischlern ernannt werden, aber auch Schuhmacher, Hutmacher, Perückenmacher und Hersteller von Strümpfen, Handschuhen, Spitzen und Litzen für die Modepüppchen und die geschniegelten Herren von Paris sowie Tuchdrucker wie Oberkampf.
Des weiteren trifft man unter ihnen Juweliere, wie die Leibjuweliere der Königin Boehmer und Bassenge, und Schirr- und Stellmacher : so stammte die für den Grafen Axel von Fersen hergestellte Kutsche, mit der Louis XVI. im Juni 1791 aus Paris flüchtete, aus der Werkstatt von Ludwig. Deutsche Musiker bringen die barocke Kammermusik nach Frankreich und führen dort ihre Blasinstrumente und das Pianoforte ein. Die Harfe von Marie-Antoinette trägt das Faktursiegel von Nadermann.
Um dem Pariser Zunftzwang zu entgehen, lassen sie sich als freie Handwerker in den Vororten der Hauptstadt nieder. Die Schreiner ziehen etwa in den Faubourg Saint-Antoine und die Stellmacher in den Faubourg Saint-Germain. Sonntags treffen sie sich aber alle in der Schwedischen Kapelle, deren Gottesdienste immer zahlreicher besucht werden. 1726 versammeln sich dort zu einem Gedächtnisgottesdienst an die tausend Personen.
Die schwedische Gesandtschaft
Schweden und Frankreich unterhalten im 17. und 18. Jahrhundert sehr gute Beziehungen. Seit 1635 darf die schwedische Botschaft in Paris ihre protestantischen Glaubensgenossen in ihrer Residenz empfangen und mit ihnen in ihrer eigenen Kapelle den Gottesdienst abhalten. Diese Kapelle ist kein abgesondertes Gebäude, sondern der große Empfangssaal des Botschafters in dessen angemietetem Stadtpalais. Die Gemeinde wird von hervorragenden Pastoren betreut, die seit 1711 vom schwedischen König ernannt und vom schwedischen Staat unterhalten werden.
Die Amtsführung des Pastors Baer (1742-1784) ist für die lutherischen Handwerker in Paris ein Segen. Baer ist ein zweisprachiger Elsässer, ein gelehrter Theologe und Humanist, der Zugang zum Königshof hat, in erster Linie aber ein wahrer Pastor ist, der alle Integrationsprobleme seiner Gemeinde löst.
Dank seiner Bemühungen können die protestantischen deutschen Handwerker völlig legal französische Frauen heiraten. Hierzu benötigen sie lediglich einen “Königlichen Gestattungsbrief der Heirat im Ausland”, der ab 1780 umstandslos erteilt wird. Die Eheschließungen finden in der Schwedischen Kapelle statt.
Der Pastor der Schwedischen Kapelle predigt in deutscher Sprache, aber einmal im Monat auch auf französisch. So finden die Deutschen allmählich ihren Weg in die französische Kultur und Gesellschaft. Die Tauf-, Trau- und Sterberegister lassen das deutlich erkennen : die Schreibweise und die Unterschriften gehen von der altdeutschen (“gotischen”) Schrift in die lateinische (“romanische”) Schrift über, die Eintragungen wechseln im Lauf der Zeit vom Deutschen ins Französische.
Den deutschen Handwerkern und Arbeitern steht das “Krankenhaus für alle Lutheraner” offen. Ihre Toten können sie würdig auf dem “Friedhof für protestantische Ausländer” an der Porte Saint-Martin bestatten.
Die dänische Gesandtschaft
1746 beschließt der dänische Gesandte Bernstorff, ebenfalls eine protestantische Botschaftskapelle einzurichten. Er stellt den deutsche Pastor Mathias Schreiber ein, dessen lange Amtszeit in Paris (1746-1784) erst mit seinem Tode endet.
Unter der Führung dieses Pastors bildet sich rasch eine Gemeinde kleiner Leute : deutsche Einwanderer ohne besondere Berufsausbildung, die ihr Auskommen als Kupferschmiede, Kesselflicker, Nagelmacher oder Lohgerber gefunden haben. Sie halten sehr stark zusammen und legen großen Wert auf ein gottesfürchtiges Familienleben. Diese Gemeinde bleibt bis zur Schließung der Kapelle (1810) rein deutschsprachig.
Die Gemeinden der dänischen und der schwedischen Botschaft verkehren aufgrund ihrer sprachlichen und gesellschaftlichen Unterschiede kaum miteinander, aber ihre Pastoren verstehen sich gut und leisten sich gegenseitig manche Dienste.
In den Wirren der Revolution
Die dänische Gesandtschaft wird von den Revolutionären halbwegs in Ruhe gelassen. Die schwedische Gesandtschaft hat jedoch schon bald den Ruf, ein “Nest von Verschwörern” zu sein, da der in Varennes vereitelte Fluchtversuch der königlichen Familie (Juni 1791) von dem schwedischen Grafen Axel von Fersen vorbereitet worden ist. Der Botschafter schließt seine Residenz und verläßt seinen Posten mit seinem gesamten Personal. Pastor Gambs hält als einziger die Stellung und wird zur Zielscheibe aller Beleidigungen, Durchsuchungen, Drohungen und tätlichen Übergriffen der “Rotmützen” seines Viertels. Es gelingt ihm, die Kirchenregister seiner Kapelle vor den Revolutionären in Sicherheit zu bringen. Seine Gemeinde läuft auseinander : die einen verstecken sich, die andern gehen zurück in die Heimat. Einige unter ihnen mischen sich jedoch in die Unruhen ein : so wird Georg Mutel zum Anführer einer Bande von Plünderern im Faubourg Saint-Antoine, Johann Koller gesellt sich zu den “Blutigen Brigaden” in der Vendée, und Tobias Schmidt wirkt am technischen Entwurf und an der Einführung der Guillotine mit.
Trotz allem bleiben die Kapellen Schwedens und Dänemarks für die wenigen beherzten Gläubigen offen, die es wagen, dort zum Gottesdienst zu erscheinen. Die Pastoren Gambs (in der schwedischen Kapelle) und Göricke (in der dänischen) sind die einzigen christlichen Seelsorger von Paris, die während der gesamten Revolutionszeit trotz aller Gefahren ihres Amtes walten. Niemals war die Zahl der in den beiden Kapellen vorgenommenen kirchlichen Handlungen höher als während der “Schreckensherrschaft”, da die Pastoren alle christlichen Paare, die sich vertrauensvoll an sie wenden, verheiraten und deren Kinder taufen, selbst wenn es sich um Katholiken handelt.
Eine französisch-lutherische Kirche in Paris und die skandinavischen Gemeinden
Dank des beherzten Vorgehens ihrer Pastoren überstehen die protestantischen Gemeinden die Wirren der Revolution und kommen zur Zeit des Konsulats (1799-1804) zu neuer Blüte. Napoleon verfügt die Trennung der französischen Protestanten von den skandinavischen Kapellen : sie werden in Paris zu einer eigenen französisch-lutherischen Gemeinde zusammengefaßt, deren Kirche von Billettes im Stadtviertel des Marais 1809 eingeweiht wird. Diese Kirche existiert bis heute.
Die Schwedische Kapelle wird 1806 zusammen mit der Gesandtschaft geschlossen. 1857 wird sie unter der Leitung eines Botschaftskaplans wiedereröffnet. Die Gottesdienste finden bis 1911 in den Räumlichkeiten der Botschaft statt. Dann bekommt die Schwedische Kirche ein eigenes Gebäude in der Rue Médéric in Paris.
Der Botschaftsgeistliche ist zugleich Pastor der schwedisch-lutherischen Kirche. Er wohnt in einem ihrer Nebengebäude, genießt aber den diplomatischen Status mit allen damit verbundenen Ehren. Diese Situation ändert sich erst im Jahre 2000 mit der Trennung von Staat und Kirche in Schweden.
Seitdem ist die Schwedische Kirche in der Rue Médéric wie alle lutherischen Gemeinden Schwedens dem Erzbischof von Stockholm unterstellt. In der Kirche wird nur in schwedischer Sprache gesprochen und gepredigt. Sie ist von der Botschaft völlig unabhängig.
Seit 1810 gibt es keine dänische Botschaftskapelle mehr in Paris. Die dänisch-lutherische Gemeinde hat sich 1874 zusammen mit der norwegischen Gemeinde neu formiert, um dann 1923 wieder unabhängig zu werden. Seit 1955 verfügt sie über eine eigene Kirche in der Rue Lord Byron.
Die Kirchenregister
Die Register der schwedischen und der dänischen Botschaftskapelle sind als Personenstandsregister eine wertvolle Quelle zur Geschichte der Lutheraner von Paris. Im Gegensatz zu den Registern der katholischen, reformierten und jüdischen Gemeinden wurden sie nicht im Pariser Rathaus eingelagert, das 1871 während der Pariser Kommune abbrannte. Sie wurden nach der Schließung der Kapellen unter Napoleon verstreut oder vergessen, aber ein Großteil wurde seit 1968 wieder ausfindig gemacht. Ihre Auswertung hat länger als 20 Jahre gedauert.