Der Künstlerkreis
Edmond-Henri Crisinel wurde 1897 in Faoug im Kanton Waadt geboren. Er ist im reformierten Protestantismus erzogen worden und ihm immer treu geblieben. Da sein Vater frühzeitig verstarb, ist er sehr früh mit dem Kontext einer Patchwork-Familie konfrontiert worden, was für ihn zugleich anregend und destabilisierend war: er findet es hart, seinen Geburtsort und die herrlichen Landschaften, die ihn glücklich machen, verlassen zu müssen, obwohl er nie sehr weit davon entfernt war, da er vor allem in Lausanne gewohnt hat und kaum weiter als bis Zürich gereist ist.
Trotz seines Wissensdurstes und eines sehr umfangreichen Allgemeinwissens seit seiner Kindheit, trotz seiner von seinen Lehrern anerkannten literarischen Talente in seiner Jugend fällt Crisinel in der Matura durch (diese entspricht dem französischen Baccalauréat oder dem deutschen Abitur). Daraufhin nimmt er eine Stelle als Hauslehrer in einer wohlhabenden Familie an, aber fühlt sich schnell schuldig wegen seiner ambivalenten Gefühle gegenüber seinem Schüler. Diese Lage, die er in der Angst des Ersten Weltkrieges durchlebt, ruft bei ihm eine Fieberwahnkrise hervor. Crisinel ist ein erstes Mal in einer psychiatrischen Klinik. Als er, zur Ruhe gekommen, entlassen wird, wird er zu einem der einflussreichen Berichterstatter der Waadter Tageszeitung La Revue de Lausanne, was ihm die Gelegenheit gibt, zwischen den beiden Weltkriegen vielen europäischen Intellektuellen und Künstlern zu begegnen. Zu denen, die ihm nahe stehen, zählt er Charles-Ferdinand Ramuz, Gustave Roud, Albert Béguin, Edmond Jaloux, Edmond Jeanneret sowie den Bildhauer Jean Clerc, der jünger war als er, aber frühzeitig verstorben ist (sein Werk enthält eine Büste des Dichters). Sein Freund seit Kindertagen und Mitschüler, der Doktor Fernand Cardis, war ihm eine ständige Stütze. Dieser Lungenfacharzt war in der Welt der Kultur und der Künste sehr engagiert, wie auch in der Theologie (er war ein sehr aufmerksamer Leser von Karl Barth).
Doch immer wiederkehrende Ängste und Selbstmordgedanken, die von allen möglichen Ereignissen wachgerufen werden, zwingen Crisinel zu weiteren Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. Die meisten seiner Gedichte zeigen Spuren dieses schwierigen Kampfes.
1948 setzt er seinem Leben ein Ende.
Ein sehr dichtes Werk
Edmond-Henri Crisinel zitiert gern den Ausspruch Victor Hugos in den Contemplations (Betrachtungen):
„Ich bin traurig und gehe am Ufer tiefer Wellen entlang, gebeugt wie einer, der träumend nachdenkt…“ Doch sein poetisches Werk ist in dem Maße verdichtet und aphoristisch, wie das von Hugo vor Überfülle wuchert. Nach einstimmiger Meinung ist das Prosagedicht Alectone, eine Art autobiographisches Fragment, geschrieben zwischen 1930 und 1932, einer der Höhepunkte seines Werkes. Aber man muss auch Nuit de Juin (Juninacht) erwähnen, Feuillets du sagittare (Blätter des Schützen), Tezcatlipoca, Elegies de la maison des morts (Elegien des Totenhauses). Einige Werke hat Crisinel selbst veröffentlicht, wofür ihm 1946 der Preis der schweizerischen Schiller-Stifung verliehen wurde.
Außer einer besonders auffallenden Beherrschung des Wortes lassen sich viele Anklänge an die Psalmen bemerken, wie auch an den Umgang mit Vergil, Hölderlin oder Gérard de Nerval, einige derer, die so fühlten wie der Dichter.
Wunder eines einzigen Verses nach soviel Schweigen!
Wunderbar, in der Welt wiedergeboren zu werden für einen Tag!
Ich sehe goldene Strahlen, die ein Erzengel sendet:
Schwingt durch mein Herz, auf dass es die Liebe besinge.
Aber, Herr, ich werde meine Strophen auf den Sand schreiben
In der Erwartung einer Stunde, wo Du alles Gute sein wirst.
Auszug aus Veilleur, in Werke, 1979, S. 41
Die Gesammelten Werke von Edmond-Henri Crisinel sind 1949 von Edmond Jaloux zusammengetragen worden und haben 1979 dank Pierre-Paul Clément eine neue Ausgabe im Verlag L’Age d’Homme erlebt. Der Dichter und Übersetzer Philippe Jacottet zollte ihm seine Hochachtung.
In deutscher Übersetzung liegen bislang nur vereinzelte Texte in Sammelbänden vor.