Der Historiker
Edouard Reuss wurde in Straßburg in einer Familie des Handel treibenden Bürgertums geboren. Er hat sein Theologiestudium in Straßburg begonnen und dann in Göttingen fortgeführt, ergänzt durch ein Studium der orientalischen Sprachen in Halle und Paris. Privatdozent (1828), dann ordentlicher Professor im protestantischen Seminar in Straßburg, lehrt er von 1838 bis 1888 als Professor an der Fakultät für Evangelische Theologie in Straßburg, wo er eine Professur für Moral, dann aber und hauptsächlich für Exegese bekleidet. Nach der Annexion des Elsass durch Deutschland setzt er seine universitäre Arbeit in Straßburg fort, wo er 1891 stirbt. Er gilt als Mitglied der liberalen Strömung in der lutherischen Kirche.
Sein Werk, das vor allem auf deutsch veröffentlicht wurde, ist beachtlich. Edourd Reuss will ausschließlich Historiker sein und praktiziert eine Exegese frei von dogmatischen oder metaphysischen Hintergedanken im Gefolge der „historisch-kritischen“ Schule von C. Baur (Tübingen), die Exegese und historische Analyse verbindet. Von den Veröffentlichungen dieses großen Universitätsprofessors sind aufzuführen:
- Die Geschichte der Heiligen Schriften Neuen Testaments (1842) und
- Die Geschichte der Heiligen Schriften Alten Testaments (1881)
- Allgemeine Einleitung zur Bibel: Überblick der Geschichte der Israeliten von der Eroberung Palästinas bis zur Zerstörung Jerusalems
- Eine Übersetzung der Bibel mit Kommentaren ins Französische in 16 Bänden (1876-1879)
- Eine Ausgabe der Werke Calvin , die alle theologischen Abhandlungen des Reformators enthält.
Für Reuss muss die Entstehung der Bibel die Kulturgeschichte des Judentums für das Alte Testament und die des Urchristentums für das Neue Testament in Betracht ziehen.
Er lehnt die „mythische“ Erklärung der Wunder in den Evangelien ab, die hauptsächlich Zeichen für den Glauben darstellen. Die Berichte über die Auferstehung Jesu sind für unseren Verstand schwer zu erfassen, aber die Verkündigung der Auferstehung stellt die Grundlage für die Transzendenz der biblischen Botschaft dar.
Der Lehrer
Edouard Reuss war einer der wichtigsten Begründer des guten Rufes der theologischen Fakultät in Straßburg bis zur Katastrophe von 1870. Er war ein bemerkenswerter Lehrer, der vor allem ein solides wissenschaftliches Studium für die zukünftigen Pfarrern forderte, sonst würde die akademische Lehre sich auf das Erlernen eines Berufes reduzieren: die Pfarrer sollten natürlich die Bibel predigen, aber das vertiefte Studium der Texte sollte dem Verfassen einer Predigt vorausgehen.
Für den französischsprachigen Protestantismus war der Einfluss von Reuss insofern wichtig, als er ihm den Reichtum der deutschen Bibelforschung vermittelt hat. Als Zeuge der Kontroversen über Bibel und Reformation, die die Erweckungsbewegung (Réveil) in Frankreich hervorgerufen hatte, war er der Ansicht, dass die verschiedenen Protagonisten die Quellen der christlichen Inspiration nicht genug kannten, weil sie das objektive Studium der biblischen Dokumente vernachlässigten.
Mit Timothée Colanie gründet er 1850 die Revue de théologie et de philosophie chrétienne
(Revue der christlichen Theologie und Philosophie), bekannt unter dem Namen
Revue de Strasbourg (Revue von Straßburg), deren Ziel es war, den Protestantismus französischer Sprache in die neuen Methoden des Bibelstudiums einzuführen.
Immer darum besorgt, die Autorität der Bibel nicht zu untergraben und Wissenschaft und Glauben zu versöhnen, hat er den sogenannten orthodoxen oder evangelischen Protestanten ermöglicht, die Erkenntnisse der Bibelkritik besser anzunehmen, und so eine Brücke zwischen den beiden Tendenzen des französischen Protestantismus seiner Zeit geschlagen.
Der Widerhall seines Werkes war beachtlich, sowohl in Frankreich als auch im Ausland, besonders in Großbritannien.