Ein beispielhaftes Lebenswerk
Oberlin wurde in Straßburg geboren, wo sein Vater Lehrer am protestantischen Gymnasium war. An der straßburger Universität studierte er zunächst Philosophie, dann Theologie, und wurde 1767 Pastor der lutherischen Kirche von Waldersbach, einer Gemeinde in der Grafschaft Ban-de-la-Roche, etwa 30 Kilometer westlich vor Straßburg gelegen. In dieser bergigen Landschaft waren die Böden karg und das Klima rauh ; die Bewohner waren « ungehobelt » und unwissend und sprachen nur ihr lothringer Platt. Hier begann Oberlin, der sein Leben lang nicht mehr von der Stelle wich, einen ganz außergewöhnlichen Versuch.
In seinem geistlichen Amt ist er von der deutschen pietistischen Glaubensströmung beeinflußt und davon überzeugt, daß der Erhebung der menschlichen Seele zu Gott eine merkliche Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse vorangehen muß.
Also geht er folgende Ziele an :
- Die Verbreitung der Tuchweberei in Heimarbeit.
- Die Entwicklung des Ackerbaus durch Einführung neuen Saatgutes und neuer Anbautechniken (Verbesserung der Bodenqualität, Bewässerung, Anpflanzung und Veredelung von Obstbäumen).
- Schaffung eines Straßennetzes, um die abgelegene Gegend in den allgemeinen Verkehr einzubeziehen.
- Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der häuslichen Unterkunft der Bevölkerung.
- Ausbildungsstipendien für geeignete Personen, die allgemeinnützige Berufe ergreifen wollen, wie zum Beispiel denjenigen der Hebamme.
Die Verwirklichung dieser Ziele setzt ungeheure Anstrengungen in Erziehung und Unterricht voraus, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen. In der biblischen Botschaft sucht er die Antwort auf die Fragen des Alltags : « Die dialektische Durchdringung der Theorie durch die Praxis, der Tat durch die Texte, ist der Angelpunkt des pastoralen Erziehungsprogramms ». Schritt für Schritt entwickelt er ein zusammenhängendes pädagogisches Projekt.
Seine bahnbrechendste Einrichtung gilt den Kleinkindern : er erfindet die Vorschule. Oberlin ist bestürzt über die Vernachlässigung der kleinen Kinder unter 6 Jahren, die noch nicht zur Landarbeit taugen. Sie verbringen den ganzen Tag allein, ohne daß sie jemand beaufsichtigen, geschweige denn erziehen würde. Er erfindet für sie die « Stricköfen » : in den größeren Häusern wird ein Zimmer mit einem Ofen, der besonders im Winter willkommene Wärme spendet, für Kinder hergerichtet, die dort von « Kindermüttern » betreut werden.
Bei diesen Kindermüttern handelt es sich um junge unverheiratete Mädchen, die noch unter elterlicher Aufsicht stehen, weshalb Oberlin erst die Zustimmung ihrer Familienoberhäupter einholen muß. Sie werden für ihre Arbeit entlohnt, wodurch ihre Familien durch ihre Tätigkeit in den « Stricköfen » nicht belastet werden und die Mädchen selbst sich zu ernsthaftem beruflichem Einsatz verpflichtet sehen. Dieses Vertragsverhältnis verleiht den jungen Bauerntöchtern ein eigenständiges gesellschaftliches Ansehen, das sich aus der Erfüllung einer tatsächlichen öffentlichen Dienstleistung herleitet.
Dieses Erziehungsprogramm entspringt der pietistischen Theologie, die lehrt, daß die Erkenntnis des Göttlichen mit der Vervollkommnung der Sinne einhergeht ; die Vernunft ist oft ein Hindernis auf der Suche nach dem Heil ; die Sinnlichkeit gehört den Frauen, den Müttern, die daher besser auf die Empfindungs- und Gefühlsbedürfnisse der kleinen Kinder eingehen können ; da die Mütter aber oft zu viel in Haus und Hof zu tun haben, um sich selbst um ihre Kinder kümmern zu können, müssen sie von Personen ihres Geschlechts ersetzt werden, die sich dieser schwierigen Aufgabe widmen, ohne dabei von häuslichen Pflichten abgehalten zu werden. Diese Haltung von Oberlin ist umso erstaunlicher, als man zu seiner Zeit davon ausging, Kinder unter 7 Jahren seien nicht erziehungsfähig ; die Familie hatte bis zu diesem Alter vor allem die Aufgabe, ihre Ernährung sicherzustellen. Um das zu ändern, hält Oberlin die erziehungsfernen Familien seiner Gemeinde über die Ergebnisse und Fortschritte seines Programms auf dem laufenden : er veranstaltet mit den Kindern der « Stricköfen » Festabende für die Eltern, wo die Kleinen Gedichte aufgesagen, was den schulischen Charakter dieser Einrichtungen im Bewußtsein der Bevölkerung verankert.
Sein Unterrichtsprogramm umfaßt folgende Punkte :
- Manuelle Tätigkeiten wie das Stricken, das der Einrichtung den Namen gab, aber auch Malen, Blätterpressen und -einkleben : also Beschäftigungen, die die an sich flüchtige Aufmerksamkeit der Kinder an einem Punkt festhält.
- Körperkultur durch regelmäßige Ausflüge in die freie Natur.
- Erlernen der französischen Sprache, die die Kinder, deren Eltern nur Dialekt sprechen, zu hause nicht zu hören bekommen : Wiederholung von Worten, Vorzeigen von Bildern, deren Gegenstände die Kinder benennen sollen, Gesang.
- Vermittlung von Grundkenntnissen in Heimatkunde und Pflanzenkunde.
- Das alles mit « sanftem Druck » und auf eine spielerische Weise, die sich stark von der Strenge unterscheidet, die die Kinder in ihrem familiären Lebensraum erfahren.
Oberlin erfindet auch mehrere « pädagogische Hilfsmittel » :
- Eine pädagogische Schriftensammlung mit Themenheften, die der Pastor selbst verfaßt.
- Eine naturgeschichtliche Sammlung (Gesteinskunde, Pflanzenkunde).
- Spielzeug, Karten, Buchstaben aus Holz, Blättersammlungen, Gesellschaftsspiele : das Spiel ist das bevorzugte didaktische Element.
Dieses Lernprogramm folgt der Leitidee, daß sich der Mensch durch die Beobachtung der Natur und das Verständnis ihrer Gesetzmäßigkeiten seinem göttlichen Schöpfer nähert. Es handelt sich um eine mitten im Leben der Kinder verankerte Pädagogik einer Öffnung zur Natur und zur menschlichen Tätigkeit, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat, wie die gegenwärtig in Europa geführte Debatte um die Beaufsichtigung und Erziehung von Kleinkindern zeigt : soll sich die Mutter oder eine Erzieherin um sie kümmern ?, die Familie oder die Schule ?, sollen sie von der Umwelt abgeschottet oder soll ihnen diese geöffnet werden ?
Für die größeren Kinder baut Oberlin mit Hilfe der Bevölkerung die verfallenen Schulen der fünf Gemeinden seines Bezirks wieder auf. Die Frage der Erziehung rückt so in den Mittelpunkt des Interesses : jedermann fühlt sich für sie verantwortlich.
Um seine Pädagogik noch weiter zu verfeinern, unternimmt der Pastor 1778 und 1780 Reisen durch Baden-Württemberg, auf denen er die dortigen Erziehungseinrichtungen besucht. Im Anschluß daran verfaßt er sein Grundschulprogramm : Leitlinien zur Einführung und Aufrechterhaltung der Disziplin, zur Unterrichtsmethode und zur Ausbildung der Lehrkräfte.
Oberlin regt auch noch weitere Neuerungen an :
- Einrichtung einer Leihbücherei : der freie Zugang zum Buch für alle ist für ihn von entscheidender Bedeutung ; niemand soll aus dem kulturellen Universum der geschriebenen Sprache ausgeschlossen werden. Er ermöglicht es den Ärmsten, Schulbücher zum halben Preis zu erwerben und die andere Hälfte in Dienstleistungen für die Schule abzuarbeiten. Dadurch wird das Buch zu einem kostbaren Gut, dessen Wert sich an der zu leistenden Arbeit ermessen läßt.
- Erzieherische Veranstaltungen für Erwachsene.
Seine verschiedenen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts fanden starken Widerhall. Oberlin führte einen umfangreichen Briefwechsel und besuchte die Zentren der Reformpädagogik in Deutschland und der Schweiz. Der Abbé Grégoire, der Vorkämpfer für die Rechte der Juden und der Negersklaven, nahm Oberlin während der « Schreckensherrschaft » (1792-1794) persönlich in Schutz, nachdem dieser kurzzeitig ins Gefängnis geworfen worden war. Auch der russische Zar Alexander setzte sich für ihn ein, als seine Truppen 1814 in Frankreich einmarschierten. Von Ludwig XVIII. wurde er in die Ehrenlegion aufgenommen. Eine Stadt im Bundestaat Ohio (USA) trägt seinen Namen. Die Reformpädagogik von Oberlin, der zudem auch noch ein Wegbereiter der ökumenischen Bewegung war, ist noch immer aktuell.