Der im Ideal der Revolution wiederentdeckte Ruhm Frankreichs
In ihren Predigten betonen die französischen Pfarrer die Dekadenz Frankreichs vor dem Krieg und das Erwachen seiner Menschlichkeit seit dessen Beginn. Die Predigten werden zunehmend radikaler: das Heldentum der französischen Soldaten lässt die allzu leichtfertige Vergangenheit Frankreichs vergessen. Im Gegensatz dazu wird die Französische Revolution zum Hauptthema der Prediger. Als überzeugte Republikaner stellen die Pastoren eine direkte Verbindung her zwischen der Revolution und der Dritten Republik, die beide als in der Kontinuität der modernen Werte der calvinistischen Reformation stehend interpretiert werden.
Frankreich als Symbol der humanistischen und demokratischen Werte
Die Prediger zeichnen ein ruhmreiches Bild von Frankreich im Gegensatz zur deutschen Geschichte, die nur aus Irrtümern und düsteren Massakern bestünde. Sie stellen Personen wie Hugo, Zola, Gambetta und Jaurès in den Vordergrund, die den französischen Geist der Freiheit und der Demokratie anregen und fördern. Pastor Jean Lafon spricht in diesem Sinne im August 1914 von den „großen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die das Antlitz Europas verändert haben und immer mehr zur Satzung und zum Schutzschild der emanzipierten Völker werden“. Frankreich nimmt eine Vorreiterrolle ein, wenn von „allgemeinen Menschenrechten“ die Rede ist, und es wird zum „Lehrer der anderen Nationen, zum aufmerksamen Wächter einer immer wieder von Regression bedrohten Zivilisation“.
Aber die wirksamste Waffe der Prediger bleibt der Vergleich mit dem deutschen Imperialismus und dessen Auswüchsen.
Der Kaiser und die deutschen Eliten an der Spitze eines despotischen Imperialismus
Die Prediger betonen die vom Kaiserreich während des Krieges begangenen Verbrechen. Die Deutschen werden nacheinander als Lügner, als grausame und herrische Wesen dargestellt: sie erscheinen als das barbarische Volk, das den Krieg angezettelt hat. Doch die schärfste Kritik trifft den Kaiser und die bürgerlichen Eliten, die das Reich leiten. Die Prediger verurteilen den deutschen Imperialismus, in dem „die Staatsräson über das Gewissen gestellt wird“. Wilhelm II. wird als „moderner Cäsar“ bezeichnet, als „blutrünstiger Prinz“, als „Kaiser der Mörder“. Der Kaiser verfolge eine aggressive Gewaltpolitik, um sich von seinen Vorgängern zu unterscheiden und seinen Namen in den Geschichtsbüchern wiederzufinden. Die Heftigkeit des Konflikts, die autoritäre Form des deutschen Regimes und die diplomatischen Betrügereien, derer er sich schuldig gemacht habe, geben den von den französischen Predigern vorgebrachten Anschuldigungen reichlich Nahrung.
Die deutschen Intellektuellen im Dienst einer „dekadenten“ germanischen Kultur
Die französischen Pfarrer sind fest davon überzeugt, dass die deutschen Intellektuellen im Dienst eines von Wilhelm II. betriebenen Pangermanismus und Imperialismus stehen, wie das am 4. Oktober 1914 von 93 Persönlichkeiten unterzeichnete „Manifest an die Kulturwelt“ belege. Die deutschen Intellektuellen verkürzten den edlen Begriff der Aufklärung zu einer militärischen Doktrin. Sie seien durch den in ihrem Wissen und in ihrer Wissenschaft wurzelnden „Stolz“ verblendet; aus diesem Grund merkten sie nicht, dass sie theologisch im Irrtum sind. Auf diese Weise stellen die französischen Pastoren einen Gegensatz fest zwischen dem von ihnen geschätzten deutschen theologischen Denken vor dem Krieg und den Gedankengängen in der Zeit des Krieges, die von nun an auf den „Staatskult“ festgelegt seien.