Die Anfänge der Reformation
Als erster predigt Jacques Lefèvre d‘Etaples (1450-1536), ein großer mystischer Gelehrter, eine Rückkehr zum Evangelium. Nach seiner Priesterweihe gehört er der Gruppe an, die unter dem Anstoß von Guillaume Briçonnet, dem Bischof von Meaux, die Diözese reformieren will.
Als Häretiker verstoßen, flüchtet er zunächst nach Straßburg, kommt dann zurück nach Paris, wo er sich unter den Schutz von Margarete von Navarra stellt. Er veröffentlicht einen Kommentar zu den Psalmen und eine Übersetzung des Neuen Testaments 1512 und 1525. Zu Recht wird er als ein Vorläufer der Reformation betrachtet.
Pierre Brully, ein jakobinischer Mönch (etwa 1500-1545), bekehrt sich um 1540 nach einer Begegnung mit Calvin in Genf und dann Straßburg zur Reformation und wird von Bucer, um den neuen Glauben zu predigen, nach Valenciennes und Tournai geschickt, wo er am 30. Januar 1545 bei lebendigem Leibe verbrannt wird.
Guy de Brès (1522-1567), der sich nach einem Exil in London von 1538 bis 1552 zur Reformation bekehrt hat, wird Pfarrer in Lille, wo er Le Baston de la Foy veröffentlicht, danach in Amiens, Antwerpen und Valenciennes. Er wird in Valenciennes erhängt, weil er das Abendmahl gefeiert hat. Er gilt als der Reformator der Niederlande.
Das Eindringen der Reformation in den Norden
In der Gegend südlich von Boulogne ist die Anwesenheit von Protestanten ab den Jahren um 1560 bezeugt. Für die Ideen der Reformation aufgeschlossene Familien des örtlichen Adels öffneten ihre Schlösser und Herrenhäuser, um dort geheime Versammlungen abzuhalten, in denen man Gottes Wort hörte und Psalmen sang. Das bekannteste Beispiel ist das Schloss von Claude de Louvigny in Wierre-au-Bois, von den Katholiken „Schloss-Tempel“ getauft, das im August 1572, am Tag nach der Bartholomäusnacht, gestürmt und verbrannt wurde.
In der Gegend um Cambrai tritt eine eher bäuerliche Bevölkerung zum Protestantismus über; Versammlungen werden in Wäldern oder abgeschiedenen Scheunen abgehalten.
Die Auseinandersetzungen nehmen zu
Nach der Abdankung Karls V. 1555 versucht seine Schwester, die Regentin Margarete von Parma, eine noch strengere Zucht in der ganzen Provinz durchzusetzen. Aber die internationale Lage (deutsche Prinzen, die der lutherischen Reformation beitreten, der Tod von Marie Tudor (1516-1558), der den englischen Calvinisten mehr Freiheit gibt, der Adel in den Niederlanden, der auch die Reformation begünstigt), unterstützt die Verbreitung der Ideen und Forderungen der Reformierten, die vor allem Versammlungsorte wollen. Trotz der Verbote Philipps II., des Sohnes von Karl V. und neuen Königs von Spanien, mehren sich die Versammlungen der „Häretiker“.
Im Laufe des Sommers 1566 entwickelt sich von Steevorde aus, einer kleinen Stadt nicht weit von Hazebrouck, eine Revolte, der „Aufstand der Geusen“ genannt nach der damaligen Bezeichnung für die Häretiker. Prediger hetzen die Menge und die Kirchen rings um Lille auf, das selber nicht behelligt wird. Marq-en-Breuil, Bondues, Crois, Wasquehal, Valenciennes, das als das „Neue Genf“ galt, werden geplündert.
Margarete von Parma wird von den gewalttätigen Auswüchsen überrumpelt und appelliert an Philipp II., der den Fürsten von Alba persönlich nach Flandern schickt. Dieser organisiert eine methodische Unterdrückung. Kommissare werden ernannt, um den Besitz der Protestanten zu schätzen, dieser wird enteignet. Viele Todesurteile werden vollstreckt. Die Anhänger der „neuen Religion“, die nicht hingerichtet werden, werden verbannt. Man zählt über 12.000, die nach England, Holland oder Genf geflüchtet sind und dort die wallonischen oder flämischen reformierten Kirchen gründen werden.
Vom Ende des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
Während die Reformationsbewegung im Artois am Ende des Jahrhunderts allmählich nachlässt, bevölkert sich die Gegend um Calais, wo die Engländer 1558 verjagt worden waren, nach und nach wieder. Die im Artois oder in Flandern verfolgten Hugenotten fanden dort Zuflucht und um 1600 folgten ihnen holländische Auswanderer.
Die Unterzeichnung des Edikts von Nantes 1598 erlaubte die Eröffnung von zwei reformierten Kirchen: in Marck und in Guines. In einer Gemeinde von etwa 3.000 Mitgliedern sehr verschiedener sozialer Herkunft – flämische Bauern und Handwerker, reiche holländische Kaufleute – half man sich gegenseitig und kam den Ärmsten zu Hilfe.
Die Aufhebung des Edikts von Nantes war ab 1660 von entehrenden Maßnahmen vorweggenommen worden mit Verhaftungen, Schließung der Gottesdienstorte und Diskriminierung aller Art, die große Teile der Bevölkerung in die Flucht schlug.
In der Gegend um Boulogne blieben einige adlige und großbürgerliche Familien dem Protestantismus treu und hielten eine kleine Gemeinde von etwa 350 Gläubigen am Leben, die sich in La Haye versammelten, einem großen befestigten Bauernhof in Nesles (Pas-de-Calais), wo die protestantische Religion verkündet wurde, wie von Artikel VII. des Edikts von Nantes von 1598 erlaubt.
Mehrere Protestanten wählten als Bestattungsort eine nahe gelegene Wiese, die lange den Namen „Protestantenfriedhof“ beibehielt.
Doch ab 1672 wurden die Genehmigungen für Predigten und Bestattungen nach und nach zurückgezogen. Im Jahre 1685 schworen die in der Gegend übrig gebliebenen Protestanten ab und am Ende des Jahrhunderts blieben im Norden nur noch etwa 300 protestantische Familien übrig.
19. und 20. Jahrhundert
Ab Anfang des 19. Jahrhunderts bildet sich nach und nach wieder ein in der Minderheit befindlicher, aber aktiver und einflussreicher Protestantismus heraus, durch verschiedene Umstände begünstigt.
Zu Beginn des Konkordats ist Lille die einzige Stadt in der ganzen Gegend, die eine offizielle Pastorenstelle besitzt. Die Protestanten sind in geringer Zahl, aber die Gemeinde wird größer dank der Anwesenheit von ausländischen, englischen und deutschen Familien, die gekommen sind, um in der Gegend Textilgeschäfte zu gründen. Die Unternehmer sorgen sich im Allgemeinen um soziale Fragen und kümmern sich auch um die religiöse Erziehung ihrer Arbeiter.
So findet am Ende des Jahrhunderts die Erweckungsbewegung im Norden einen bedeutenden Widerhall. Sie wurde zum Teil von dem englischen methodistischen Pfarrer John Wesley (1703-1791) inspiriert, dem in Frankreich Tommy Fallot (1844-1904) und Elie Gounelle (1865-1950) nachfolgten.
In dem Maße wie sich Gemeinden bilden, werden auch Pastorenstellen geschaffen in Dunkerque, Tourcoing, Roubaix, wo Pastor Gounelle 1898 ein Heim eröffnet, „Die Solidarität“ genannt, wo sich viele Hilfswerke kreuzen: Aufenthaltsort, Volksuniversität, Arbeiterzirkel.
Im Kohlenabbaugebiet taucht der Protestantismus erst später auf, auch hier verbunden mit einer Evangelisierungsgesellschaft, der Christlichen Gesellschaft des Nordens.
Die bedeutende Beteiligung der Arbeiterkreise an den Versammlungen schafft die Grundlage für die Eröffnung der protestantischen Zentren von Hénin-Beaumont, Liévin und Lens, wo Ende des Jahrhunderts evangelische Kirchen und Pfarrhäuser gebaut werden.
Eine andere große Persönlichkeit der Evangelisierung im Norden ist Henri Nick (1868-1954), Pastor der reformierten Kirche von Lille, der sich von der Volksmission von Fives entsenden lässt, einem der ärmsten Vororte der Stadt. Er organisiert dort Arztbesuche, den Kampf gegen den Alkoholismus und nimmt an Tourneen mit Liedern, Predigten, Diskussionen teil, in denen er sich den Vertretern der Freidenker entgegenstellt. Er organisiert Ferien für die Arbeiterkinder, steht auf der Seite der Arbeiter bei den großen Streiks der 30er Jahre und ist bei allen Arbeitskämpfen dabei. Aber seine Tätigkeit findet am Rande der Bewegung des Sozialen Christentums statt, für die der Norden doch einer der wichtigsten Standorte ist.
Ein ähnliches Bemühen, in Arbeiterkreisen das Evangelium zu verkünden, gibt es in Boulogne (Pas-de-Calais), wo 1830 Pfarrer Henri Pyt (1796-1835) als Abgesandter einer englischen Evangelisierungsgesellschaft eintrifft. Darauf folgen die Evangelische Gesellschaft Frankreichs, dann die Volksmission des methodistischen, englischen Pfarrers Mac All (1821-1893).
Daran zeigt sich, dass die Tätigkeit der Pfarrer außerhalb des offiziellen Rahmens des Protestantismus entscheidend ist, insbesondere für die Regulierung der Kinderarbeit und den Kampf gegen den Alkoholismus.
Aber diese Entwicklung von Initiativen, die von Evangelisierungsgesellschaften verschiedener Herkunft und Inspiration getragen ist, schadet der Einheit des Protestantismus und am Ende des 20. Jahrhunderts gibt es im Norden drei kirchliche Vereinigungen:
- Die Vereinte Reformierte Kirche,
- die Union der Evangelischen Kirchen
- und die Union der Reformierten Kirchen (inspiriert von der Erweckungsbewegung).
Eine Vereinigung all dieser Kirchen lässt bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf sich warten, sie wird letzten Endes erst 1938 wird mit der Gründung der Reformierten Kirche Frankreichs (ERF) erreicht.
Der Wille, das Evangelium zu verkünden und den ärmsten Menschen zu Hilfe zu kommen, bleibt ein Pfeiler des aktiven und einflussreichen Kerns des „nordischen“ Protestantismus und im Laufe des 20. Jahrhunderts finden sich viele Protestanten, die sich in den Aktionen der Städte, der Départements und der Region engagieren.