Die Reformation
Das 16. Jahrhundert ist das Jahrhundert der von Luther initiierten Reformation. Sie ist ein wichtiger Schritt in der Geschichte Deutschlands, eine theologische, religiöse, sprachliche und politische Wende.
Auf dem Reichstag zu Augsburg (1530) scheitert die Versöhnung zwischen Luther und den Katholiken; die Lutheraner sind in Nord-, Mittel und Westdeutschland in der Übermacht. Nur in den rheinischen Ländern und Süddeutschland mit Ausnahme Württembergs bleiben die Lutheraner in der Minderheit: ihre Kirchen sind in den kleinen, von Fürsten beherrschten Staaten oder in den von Räten regierten Städten verstreut. Die Vielfalt von Rechtssprechung und politischer Verwaltung ist im Reich kaum zu übersehen: In den Gebieten des Reichs, besonders in Deutschland und Ungarn, in denen die kaiserliche Macht schwächer ist, können freie Reichsstädte und Fürstentümer über ihr Schicksal selbst bestimmen.
Versuche einer Wiederannäherung zwischen lutherischen und katholischen Theologen (Zusammenkünfte von Hagenau, Worms, Regensburg) scheitern an dem zentralen Punkt der Rechtfertigung. Karl V. versöhnt sich 1544 mit dem französischen König Franz I. und wendet sich dann in dem festen Entschluss, den Katholizismus wieder einzuführen, nach Deutschland. Die protestantischen Fürsten und freien Reichstädte organisieren sich angesichts der Bedrohung durch den Kaiser im Schmalkaldischen Bund. Der Kurfürst von Sachsen und der Landgraf von Hessen sind die Anführer der antikaiserlichen Partei. Im sogenannten Schmalkaldischen Krieg (1546-1555) konnten die protestantischen Fürsten den Kaiser mit Unterstützung der Franzosen (Vertrag von Chambord) trotz der verlorenen Schlacht bei Mühlberg in Sachsen auf Distanz halten. Der Kampf endet 1555 mit dem Augsburger Frieden. Darin werden zwei Religionen, die lutherische und katholische, offiziell anerkannt und die konfessionelle Einheit für jedes Gebiet angeordnet: Jeder Fürst darf zwischen Katholizismus und Reformation wählen und diese Religion in seinen Staaten nach dem Prinzip cuius regio eius religio durchsetzen. Nach diesem Prinzip der politischen (Fürstentum, Freie Reichsstadt) und konfessionellen Einheit werden die protestantischen Staatslenker (König, Fürst oder Rat) auch für die Ernennung der Pfarrer verantwortlich; Könige und Prinzen werden zum summus episcopus. Den Untertanen bleibt nur Unterwerfung oder Auswanderung. Die lutherischen Kirchen sind auf diese Weise mit der politischen Macht verknüpft, der Fürst ist verpflichtet, das zeitliche und geistliche Heil seiner Untertanen zu fördern.
Der Bauernkrieg
Die Lage bleibt gleichwohl verworren. Die Fürsten hatten schon immer davon geträumt, die Kirchen unter ihre Kontrolle zu bringen, die Zuständigkeiten der Geistlichkeit einzuschränken und die Kirchengüter einzuziehen. Sie nutzen die Gelegenheit, die mit Luthers Kritik an der geistlichen Autorität der katholischen Kirche entstanden ist. Auch die Sorge um größere soziale Gerechtigkeit, die sich im Thesenanschlag Luthers ausspricht, wird vom Volk manchmal in sehr radikaler Weise ausgelegt. Extremisten und Propheten tauchen auf: Thomas Müntzer verachtet die weltliche Ordnung und das zeitliche Wissen, weil Gott seinen Willen den Auserwählten direkt mitteile; er fordert die Ausrottung der Ketzer, die er mehr und mehr in der besitzenden Klasse verortet.
1525 breitet sich der „Bauernkrieg“ auf Süddeutschland und einige österreichische Länder aus und zerstört auf seinem Weg alle Symbole der Macht: Kirchen, Klöster und Schlösser. Der Aufstand wird grausam niedergeschlagen, Müntzer zu Tode gefoltert. Die Wiedertäufer, die sich in der Schweiz ausbreiten, verkörpern diese radikale Strömung; in den rheinischen Ländern und den Niederlanden kommt es zu Ausschreitungen und sie werden erst 1585 ausgerottet. Luther ist über die Kräfte, die er entfesselt hat, und die Exzesse der Bilderstürmer beunruhigt. Luther wie auch Kalvin („die Furcht Gottes ist das Fundament der Religion“), Zwingli und Bucer sehen sich zur Gründung einer neuen offiziellen Kirche genötigt, um Autorität, moralische Disziplin und die Reinheit der Lehre wieder herzustellen. Die Unterstützung der weltlichen Obrigkeit scheint dazu unentbehrlich.
Die Kirchenorganisation nach dem Augsburger Bekenntnis
Theologische Diskussionen beginnen sich zu entwickeln. Melanchthon (1497-1560), der Schüler und Freund Luthers, findet einen Weg zum Frieden. An die Stelle der Rechtfertigung durch die Werke tritt, so betont er, das Versprechen der Gnade, das alle Menschen betrifft, die im Glauben stehen; wesentlich ist die Treue zu Gott; jeder Einzelne muss sie an der ihm von Gott zugewiesenen Stelle in seiner Arbeit verwirklichen. Diesen Standpunkt vertritt Melanchthon auf dem 1530 von Karl V. einberufenen Reichstag zu Augsburg in einer gemeinsam mit Luther verfassten Erklärung, die von sieben Fürsten und zwei Freien Städten unterzeichnet wurde und durch die die Organisation der Kirche gemäß dem Augsburgischen Bekenntnis möglich wird: Es wird 1555 zum Glaubensbekenntnis der lutherischen Kirche.
Melanchthon neigte zu einer spirituelleren Auffassung der Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, einer Auffassung, die auch von den Kalvinisten vertreten wurde; dadurch leben die theologischen Erörterungen wieder auf. Das Wormser Religionsgespräch (1557) soll diesen Streitereien ein Ende setzen und begründet die Lutherische Orthodoxie, die von zwei Dritteln des deutschen Protestantismus vertreten wird.
Von der Universität Wittenberg aus breitet sich aber auch der in Zürich und Genf vertretene Kalvinismus aus. Zuerst in der Pfalz, wo der Kurfürst Friedrich III. sich nach mehreren Jahren des Zögerns für die reformierte Konfession entscheidet, die im Heidelberger Katechismus (1563) zusammengefasst wird. Später schließen sich der Herzog von Zweibrücken, die Stadt Bremen, zahlreiche nördliche Fürstentümer und vor allem der Kurfürst von Brandenburg an: 1613 wird Johann Sigismund Kalvinist, wendet aber, und das ist ungewöhnlich, in seinen Ländern das Prinzip cuius regio eius religio nicht an, sodass die Mehrzahl seiner Untertanen lutherisch bleibt: Ein Mindestmaß an protestantischer Solidarität macht sich bemerkbar, indem sich die lutherischen Fürsten heraushalten und Johann Sigismund nicht öffentlich verurteilen. Solidarität drückt sich auch in der Aufnahme der Glaubensflüchtlinge vor allem in Brandenburg aus, wo die französischen Hugenotten in großer Zahl Aufnahme finden.
Das Ende des 16. und der Anfang des 17. Jahrhunderts sind von ständigen theologischen Streitereien zwischen Lutheranern und Kalvinisten gekennzeichnet: man nennt sie das konfessionelle Zeitalter, das zur Organisation beider Konfessionen führt. Nicht einmal der Jahrestag der Reformation 1617 bringt sie wieder zusammen. 1618 beginnen die schrecklichen Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), eines regelrechten Religionskrieges zwischen Katholiken und Protestanten. Nach diesem Krieg werden die Verhältnisse klarer, ein religiöses Gleichgewicht hat sich eingependelt.
Entstehung des Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert
Im Pietismus steht das religiöse Gefühl im Vordergrund, womit eine Erforschung des Inneren, die Notwendigkeit des Gebets und eine Aufwertung der Persönlichkeit einhergehen. Hauptvertreter sind P. J. Spener (1635-1705), A. H. Francke (1553-1627) und die Mährischen Brüder des Grafen von Zinzendorf (1700-1760). Die von den Pietisten gegründete Universität Halle und die mit modernen Mitteln ins Werk gesetzte Lehre der Pietisten erlangt großen Einfluss.
Das 19. Jahrhundert
Die napoleonische Invasion führt zum Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806). Danach entsteht der Deutsche Bund, in dem sich die Fürsten nach unterschiedlichen Gesichtspunkten zusammenschließen. Das politische Gleichgewicht verändert sich für alle außer für Preußen. Nach der französischen Niederlage und dem Wiener Kongress (1814) konsolidiert sich das mehrheitlich katholische österreichisch-ungarische Reich und das überwiegend protestantische Preußen steigt wirtschaftlich wie politisch zur Großmacht auf.
Das jeweilige Staatsoberhaupt hat nach der von Luther eingerichteten kirchlichen Organisation die höchste Autorität in der Kirche und muss alle Protestanten regelmäßig zusammenrufen, auch gegen ihren Willen. Solche Versammlungen fanden 1817 in Preußen, 1817 in Nassau, 1823 in Hessen und 1827 in Anhalt statt.
Die preußischen Hohenzollern sind Kalvinisten, während ihre Untertanen in der Regel Lutheraner geblieben sind. Lange Zeit gab es keine grundlegenden Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen der Lutherischen Kirche Preußens und dem Staat. Allmählich taucht die Idee einer Verwaltungsreform auf, um die Beziehungen zwischen dem Staat und den lutherischen und reformierten Gemeinden zu vereinheitlichen. Der Theologe Schleiermacher, dazu befragt, rät zur gemeinsamen Verwaltung in einer unierten evangelischen Kirche, zu größerer Freiheit der Kirchen in der Wahl der Geistlichen sowie zur Presbyterial- und Synodalverfassung der Kirche. In der Revolution von 1848 wird die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche laut, es kommt aber nicht dazu. Der Preußische König bleibt bis zur Weimarer Republik der höchste Bischof der evangelischen Kirche.
Als Bismarck (der bei Schleiermacher Konfirmandenunterricht hatte) Kanzler von Preußen wird, will er Konflikte mit der katholischen Kirche vermeiden. Er versucht vor allem der protestantischen Kirche eine modernere Verfassung zu geben und richtet für alle Provinzen Synoden ein, an denen gewählte Laien teilnehmen. Im Rahmen des Kulturkampfes erreicht er unter Hinblick auf Luthers Lehre von den zwei Reichen eine klarere Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Macht, indem er die Beziehungen von Kirche und Staat genauer definiert. Der Staat bestimmt die Gesellschaftspolitik und schränkt hier die Rolle der Kirchen ein; insbesondere darf es keine private religiöse Unterweisung geben, dafür übernimmt der Staat den Religionsunterricht in allen Schulen.
Das 20. Jahrhundert
1925 werden die „Deutschen Christen“ gegründet, eine nationalistische Bewegung, die ein positives Christentum verkündet, das zum Ideal des deutschen Protestantismus der Nationalsozialisten wird. Auf dem deutschen Evangelischen Kirchentag 1927 in Königsberg wird die 1000jährige innere Einheit von Christentum und Deutschtum ausgerufen. Die christlichen Sozialisten widersprechen der Erklärung, weil sie Christentum und Faschismus für unvereinbar halten.
Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kommt, wird der Katholizismus sofort im mit dem Vatikan geschlossenen Konkordat (20. Juli 1933) mundtot gemacht. Kardinal Pacelli, der spätere Pius XII., vertritt den Vatikan. Bei den evangelischen Kirchenwahlen im März erhalten die „Deutschen Christen“ 43,9% der Stimmen. Im Mai werden auf Scheiterhaufen antideutschen Bücher verbrannt und bei den neuen Kirchenwahlen im Juli, die Hitler selbst organisiert, erhalten die „Deutschen Christen“ ¾ der Stimmen. Die Parole „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ gehört zum neuen Glaubensbekenntnis. In den Kirchen ersetzt man das Kreuz durch das Schwert und die Bibel durch „Mein Kampf“.
Und doch organisiert sich Widerstand. Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller beziehen im April 1933 gegen die antisemitische Ideologie Stellung. Nach der großen Kundgebung im Berliner Sportpalast im November, auf der die Gründung einer von Rassismus und Antisemitismus geprägten Reichskirche gefordert wurde, wird in den Gemeinden der „Bekennenden Kirche“ (1/10 der deutschen Gemeinden) eine Erklärung verlesen, die sich gegen Prinzipien und Aktion der „Deutschen Christen“ richtet.
Ende Mai 1934 versammelt sich die erste inoffizielle Synode der „Bekennenden Kirche“ („Bekennende Kirche“: Gemeinden und Vereinigungen der Lutherisch-Reformierten Kirche). Es geht um den notwendigen Widerstand gegen die Bestrebungen der Nationalsozialisten, sich die Kirche unterzuordnen. Den dort verabschiedeten Text, die „Barmer Theologische Erklärung“ vom 31. Mai 1934, haben im Wesentlichen Karl Barth und der Lutheraner Hans Asmussen verfasst. Sie ist „ein christlich biblisches Zeugnis im Sinne der Reformation“. Allerdings ist sie aus rein religiösen Motiven entstanden und stellt einen Akt geistigen Widerstands dar, um die Kirche und die Reinheit ihrer Botschaft zu verteidigen, und keine politische Handlung, insbesondere erwähnt sie die Juden nicht: Nur Barth und Bonhoeffer hatten die Tragweite dieser Erklärung, die sich erst langsam enthüllte, begriffen. Trotz ihrer Lückenhaftigkeit bildet die Barmer Theologische Erklärung die Grundlage des protestantischen deutschen Widerstands.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Deutschland in zwei Staaten aufgeteilt: Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) entsteht in den von den USA, Großbritannien und Frankreich besetzten Zonen, während die Deutsche Demokratische Republik (DDR) in der sowjetisch besetzten Zone entsteht.
Die je nach Gebiet lutherischen, reformierten und unierten Kirchen werden 1948 in Eisenach in der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zusammengefasst.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 sind die katholische und evangelische Kirche als Körperschaften des öffentlichen Rechts verankert. Sie sind steuerpflichtig und der Religionsunterricht in den Schulen ist für alle, die einer Konfession angehören, verbindlich. Die Protestanten gründen 1957 das von Kirchensteuern finanzierte Diakonische Werk, das im sozialen und medizinischen Bereich erfolgreich tätig wird. Der Johanniter-Orden reformierten Ursprungs ist in der Notfallmedizin und Altenpflege von großer Bedeutung. Die Kirche unterhält auch die Evangelischen Akademien als Stätten der Reflexion über gesellschaftliche Probleme.
Durch den Kalten Krieg und die durch den Eisernen Vorhang verursachten Kommunikationsprobleme (der Mauerbau begann 1961) ist die kirchliche Einheit der EKD seit 1969 unterbrochen.
Von 1969 bis 1990 gehören die acht Landeskirchen in der DDR zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR.
Unter der kommunistischen Herrschaft geht die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder erheblich zurück. Die mehrheitlich protestantischen, lutherischen, reformierten und unierten Kirchen in der DDR sind in der schwierigen Lage, dass sie mit den sie kontrollierenden Machthabern im Gespräch bleiben müssen. Die Geheimpolizei (Stasi) rekrutiert auch Mitglieder der protestantischen Kirchen. Aber gerade den Kirchen, speziell in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin, gelingt es, die Freiheitsbestrebungen zu bündeln und den Fall der Mauer im November 1989 sowie die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 mit herbeizuführen. Auch die Kirchen der acht Länder treten 1990 der EKD bei.
Die EKD umfasst gegenwärtig 23 Landeskirchen, davon 10 lutherische, 2 reformierte und 11 unierte Kirchen. In den Landeskirchen haben die Gemeinden die Wahl,
- die lutherische Tradition des Augsburger Bekenntnisses und des lutherischen Katechismus zu befolgen,
- der reformierten Tradition des Heidelberger Katechismus zu folgen,
- oder, in den unierten Gemeinden, einen von beiden oder sogar beide Katechismen zu wählen.
In den Gemeinden wird ein Pfarrer nur eingestellt, wenn er die örtliche Tradition respektiert.
Nach der Wiedervereinigung sind die evangelischen Christen in Deutschland in der Mehrheit: 29 Millionen Protestanten gegenüber 27 Millionen Katholiken. Der Anteil der Protestanten ist in der ehemaligen DDR höher als in den alten Bundesländern. Die EKD strebt die Vereinigung ihrer Mitgliedskirchen an. Außerhalb der EKD gibt es Freikirchen: Baptisten, Methodisten und Pfingstgemeinden zählen rund 3 Millionen Mitglieder.
Die Pfarrer beziehen sich in der Amtsausübung auf eine oder beide Konfessionsschriften und verpflichten sich in jedem Fall auf die Barmer Erklärung