Einführung der Reformation in Genf
Genf ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein unabhängiger Staat. Luthers Ideen üben von Beginn an Einfluss in Genf aus und der Staat als Exekutive bekennt sich 1536 zur Reformation, was den Predigten von Guillaume Farel zu verdanken ist. Im selben Jahr wird Johannes Calvin, dessen Institutio Christianae Religionis bereits Berühmtheit erlangt hat, nach Genf berufen, um die Reformation zu stärken und Genf in eine nach dem Evangelium lebende Stadt zu verwandeln. Vieles trägt dazu bei, dass Genf zum „Rom des Nordens“ wird: Der Zulauf französischer, italienischer, englischer und holländischer Flüchtlinge, die 1559 gegründete Akademie, die viele ausländische Studenten ins Land lockt, die Ausstrahlung Theodors von Bèze, des Mitarbeiters und künftigen Nachfolgers von Calvin. Die reformierte Kirche nach Genfer Vorbild mit den Ämtern des Pfarrers, Ältesten und Diakons wird zum Muster für den Protestantismus und trägt dazu bei, den reformierten Glauben in Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien zur meistverbreiteten evangelischen Richtung zu machen.
In den Schweizer Kantonen
Zur selben Zeit schließen sich die wichtigsten Kantone, Zürich, Basel und Bern (dazu gehört der jetzige Kanton Waadt mit der Hauptstadt Lausanne) der Reformation an. In Zürich erarbeitet Zwingli (1484-1531), der eine wichtige Rolle spielt, theologische Positionen, die sich vor allem in der Abendmahlsfrage von denen Luthers unterscheiden und den von Calvin in seiner Prädestinationslehre aufgestellten Thesen näher stehen. Die Reformation setzt sich hauptsächlich in den Städten durch, während die ländlichen Gemeinden und die Gebirgsdörfer dem katholischen Glauben treu bleiben und mit Unterstützung von Papst und Kaiser eine „Christliche Vereinigung“ bilden. Der „Erste Kappelerkrieg“ (1529) zwischen Reformierten und Katholiken endet mit einem Kompromiss, mit dem Zwingli unzufrieden ist, was einen zweiten Krieg heraufbeschwört: In der Schlacht bei Kappel, in der Zwingli 1531 den Tod findet, werden die Züricher Streitmächte von den Katholiken geschlagen. Der folgende Friedensschluss schreibt die konfessionelle Spaltung der Schweiz fest: Vier reformierten Kantonen (Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen) stehen sieben katholische Kantone (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug, Solothurn und Freiburg) gegenüber, die Kantone Glarus und Appenzell waren konfessionell gespalten. Die katholischen Kantone waren zwar weniger dicht besiedelt und weniger wohlhabend als die reformierten, hatten aber in der Tagsatzung die Mehrheit. Die katholische Opposition verhinderte lange Zeit eine Erweiterung der Eidgenossenschaft, sodass der unabhängige Staat Genf erst 1815 zur Schweiz stieß.
Auf protestantischer Seite ist die Organisation des kirchlichen Lebens nicht einheitlich: In Genf übt ein Konsistorium die kirchliche Gewalt aus, in Zürich behält die weltliche Macht ihren Einfluss. Aufkeimende Konflikte werden von Heinrich Bullinger (1504-1575), dem „Patriarchen des reformierten Protestantismus“, verhindert. Das unter seiner Federführung entstandene „Zweite Helvetische Bekenntnis“ (1566) wird zur Grundlage des Schweizer Protestantismus.
Triumph der „reformierten Orthodoxie“ im 17. Jahrhundert
Anfang des 17. Jahrhunderts gibt es Versuche, dem Katholizismus wieder zur Macht zu verhelfen. Das unabhängig gebliebene Genf leistet den Feldzügen des Herzogs von Savoyen Widerstand. Durch ihren sieghaften Widerstand befreien sich die Genfer in der Nacht der Escalade (Dezember 1602) von der Übermacht der Savoyarden und vermehren ihren Einfluss in Europa.
In der Süd- und Westschweiz erstarkt die Gegenreformation unter dem Einfluss des Erzbischofs von Mailand, Charles Borromée, dessen kirchliche Rechtsprechung sich auf einen Teil der Eidgenossenschaft erstreckt. Der Katholizismus etabliert sich erneut in den Kantonen Glaris, Appenzell und Graubünden. Jesuitenschulen werden in Luzern und Freiburg gegründet. Obwohl die Protestanten doppelt so zahlreich sind wie die Katholiken, haben sie in der Tagsatzung keine Mehrheit. Das führt zu Konflikten und Spannungen, die sich in den Villmergerkriegen entladen. Der Friede von Aarau (1712) setzt den bewaffneten Auseinandersetzungen ein Ende und bringt erstmalig Glaubensfreiheit in gemischtkonfessionellen Vogteien.
Auf der Synode von Dordrecht (1618) versammeln sich die Vertreter der reformierten Kirchen Europas, das erste Mal stellt sich der Kalvinismus auf internationaler Ebene vor. Die Schweizer Theologen schließen sich der Entscheidung der Synode bezüglich der Prädestinationslehre an. Eine Zeit „reformierter Orthodoxie“, einer Verschmelzung der Theologie Calvins und Théodore de Bèzes in scholastischer Gestalt, hebt an.
Die Lage stabilisiert sich um die Jahrhundertmitte: die Schweiz bleibt hinsichtlich der Religion ein gemischtes Land mit leichtem protestantischen Übergewicht; in den meisten Kantonen ist allerdings nur eine Konfession offiziell anerkannt. Durch den Frieden von Westfalen wird die Eidgenossenschaft endgültig unabhängig.
Die reformierten Schweizer Kantone und besonders die Republik Genf entwickeln sich zur Zuflucht für die verfolgten Protestanten – man schätzt ihre Zahl auf 8.000 – und besonders für die französischen Hugenotten. Sie spielen für die intellektuelle Ausstrahlung von Genf und für den wirtschaftlichen Aufschwung der Kantone eine wichtige Rolle.
Zu beachten ist auch, dass die Schweizer Kantone nicht am Dreißigjährigen Krieg beteiligt sind (1618-1848).
Einfluss der Aufklärung im 18. Jahrhundert
In Zürich und Basel versuchen die Pietisten an Einfluss zu gewinnen, während Theologen wie der Pastor Johann Friedrich Osterwald (1663-1747) eine offenere, „liberale Orthodoxie“ verkünden. In der zweiten Jahrhunderthälfte üben Voltaire und Rousseau, die in Predigten häufig zitiert werden, großen Einfluss auf die Theologie aus: Die „Theologie der Aufklärung“ mit der Vernunft als Richtschnur geht auf Distanz zur kalvinistischen Theologie und besonders zur Prädestinationslehre. Genf bleibt aber weiterhin eine protestantische Stadt: Die Verfassung von 1794 behält die Staatsbürgerschaft ausschließlich Protestanten vor.
In Lausanne gründet Antoine Court 1726 ein Seminar, das fast hundert Jahre lang die Pfarrer der „Wüste“ ausbilden wird, die in Frankreich bis zur Revolution heimlich tätig sind.
Im 19. Jahrhundert steht die Erweckungsbewegung in Genf in Opposition zur Gesellschaft der Pastoren (compagnie des pasteurs).
Als Reaktion auf diese Theologie der Aufklärung entsteht seit 1810 die Erweckungsbewegung unter den Theologiestudenten der Genfer Fakultät. Ihre wichtigsten Vertreter sind Ami Bost, Henri Pyt et César Malan. Unter dem Einfluss von Pietismus und Methodismus bezweifeln sie die Vormachtstellung der Vernunft und befürworten einen Glauben, der eher im Gefühl gründet und sich auf Calvin und Bibellektüre zurückbesinnt. Sie werden von angelsächsischen Predigern unterstützt, auch von Frau von Staël, Benjamin Constant und deren „Herzensreligion“.
Zwischen den Vertretern der Erweckung und der Gesellschaft der Genfer Pastoren kommt es zu erheblichen Spannungen. Einige Pastoren, darunter César Malan, werden abgesetzt. Die erste unabhängige Kirche wird 1818 in Bourg du Four gegründet. Die Kapelle des Oratoire wird 1834 durch die Société Evangélique gegründet. Aus ihr gehen mehrere Pastoren und Prediger hervor, die die Erweckung in Frankreich verkünden, wie Ami Bost im Elsass, Henri Pyt im Isère, Felix Neff in den französischen Hochalpen. César Malan unternimmt viele Missionsreisen nach Frankreich und in andere europäische Länder. Alexandre Vinet (1727-1847), Professor an der theologischen Fakultät Lausanne – einer der größten Schweizer Theologen des 19. Jahrhunderts –, veröffentlicht 1824 Du respect des opinions: Darin verteidigt er die Erweckungspastoren, ohne die Aufklärung zu verleugnen, und kann so zum besseren Verständnis der gegenseitigen Ansichten beitragen. In Frankreich findet er einen großen Leserkreis und seine Pastoraltheologie gehört dort bis Mitte des 20. Jahrhunderts zur Pflichtlektüre.
Die Konflikte mit den Katholiken dauern fort: Die katholischen Kantone, die sich im Sonderbund zusammengeschlossen haben, werden 1847 in einem kurzen Krieg von den protestantischen Kantonen besiegt. Die Schweizerische Eidgenossenschaft wird 1848 verfassungsmäßig gegründet.
Fortschreitende Säkularisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Die Trennung von Kirche und Staat wird 1907 per Gesetz eingeführt, um die Gleichheit zwischen protestantischer und römisch-katholischer Bevölkerung zu gewährleisten. Die Kirche verliert dabei die Kontrolle über die Schulbildung.
In den Konflikten dieses Jahrhunderts bewahrt die Schweiz ihre immer wieder hochgehaltene Neutralität; einige Schweizer wie der Schriftsteller Denis de Rougemont (1906-1985) unterstreichen die Wichtigkeit des kulturellen Erbes der europäischen Länder und kämpfen für die Schaffung einer europäischen Bewegung. Das Land beharrt jedoch darauf, außerhalb des europäischen Wirtschaftsraumes zu bleiben. Die Idee der Schweiz als Land der Freiheit – besonders was Probleme der Bioethik anbelangt – lebt in der Anwesenheit vieler internationaler Organisationen fort, sowohl hochrangiger kirchlicher Organisationen wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen, dem Reformierten Weltbund, dem Lutherischen Weltbund, als auch laizistischer Organisationen wie dem Roten Kreuz.
In den Kantonen existieren die reformierten Kirchen unabhängig voneinander. Ihre Statuten unterscheiden sich von Kanton zu Kanton. Einige sind unabhängig vom Kanton, andere stehen unter einer Art Konkordatsvereinbarung.
Sie haben sich 1920 zum Bund Protestantischer Kirchen in der Schweiz zusammengeschlossen, dem heute 24 Kantonskirchen, die freien evangelischen Kirchen und die Evangelisch-Methodistische Kirche in der Schweiz angehören.
2005 gehören 2,5 Millionen von insgesamt 7,2 Millionen Einwohnern dem Protestantismus und 3,2 Millionen dem Katholizismus an.
Obwohl das Land ursprünglich mehrheitlich protestantisch war, ist die jetzige Aufteilung etwa 40% zu 60%, was sich wahrscheinlich durch Einwanderung überwiegend katholischer Bevölkerung erklärt.