Unruhige Zeiten
Im ausgehenden Mittelalter führen viele Entwicklungen, darunter die zunehmende und sich auch geographisch ausweitende Handelstätigkeit, zu Veränderungen im gesellschaftlichen Leben und in den sozialen Beziehungen. Das städtische Bürgertum wird einflussreicher, während die Rittergeschlechter an Autorität verlieren. Der Bauernstand leidet unter wachsenden Abgaben und Frondiensten, häufig in Form der Leibeigenschaft.
Hier und da brechen gewalttätige Unruhen aus: der Aufstand der Reichsritter, die Bauernkriege und der Aufstand der Wiedertäufer in Münster.
Die Aufständischen, die sich gegen Missstände wehren, erwarten häufig von Luther, dass er öffentlich für sie Partei ergreife. Der Lehre und den Predigten des Reformators lässt sich entnehmen, dass ihre Probleme ihm nicht gleichgültig sind. Seine Stellungnahmen entsprechen aber nicht immer den Erwartungen der Protagonisten, die es lieber sähen, wenn er sich offen auf die Seite der Unterdrückten stellte.
Der Kampf gegen die weltliche Macht der Kirche: „An den christlichen Adel deutscher Nation“
1520 schreibt Luther einen Aufruf an die Fürsten, in dem er sie ermahnt, sich nicht mehr den kirchlichen Würdenträgern zu unterwerfen. Er verlangt von ihnen, Verantwortung zu übernehmen. So sollen sie Recht sprechen, den Unterhalt der Schulen und des Unterrichts sichern und den Handel fördern. Er schlägt vor, keine Kirchensteuern mehr zu erheben, die zweifelhaften Zwecken dienen. Diese Empfehlung bezieht sich konkret auf die Steuer, mit der der Papst die Truppen von Franz I. im Kampf gegen die Truppen Karls V. unterstützen wollte.
Die Bauernkriege
1524 wollen sich die Bauern von der Leibeigenschaft und zahllosen Abgaben befreien und schlagen einen schweren Aufstand los. Unter ihren Anführern befindet sich Thomas Münzer, ein ehemaliger Mönch, der Lutheraner und dann Pfarrer bei den Wiedertäufern geworden war. Sein Aufruf gründet ausdrücklich in den von Luthers Kampf und Lehre geweckten Hoffnungen. Luther will sich aber dieser Sache nicht anschließen, obwohl man ihn zur Parteinahme zugunsten der Bauern gegen den Adel drängt.
Zwar ist er nicht gleichgültig geblieben. In verschiedenen Reden und Schriften hat er deutlich versucht, mäßigend auf beide Parteien, Bauern und Adlige, einzuwirken. Aber die Bauern fühlten sich verraten, um so mehr als ihrer Niederlage eine blutige Repression folgte. Die Haltung Luthers in dieser Auseinandersetzung stellte eine Enttäuschung dar und wurde ihm von Historikern häufig vorgeworfen.
Die Verwerfung der jüdischen Gemeinden
In den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts wollte Johann Friedrich I. der Großmütige, Kurfürst von Sachsen, die Juden unter willkürlichen Vorwänden aus seinem Herrschaftsbereich vertreiben. Man sollte meinen, Luther hätte sich gegen eine solche Entscheidung empört und sie zu verhindern versucht. Aber dies war nicht nur nicht der Fall, sondern Luther ermutigte den Kurfürst auch noch zu dieser ungerechten Entscheidung.
Die Beziehungen Luthers zur jüdischen Gemeinde waren sicher nicht einfach. Die katholische Erziehung jener Zeit war sichtlich von Antisemitismus geprägt, da man sich die Juden als Gottesmörder vorstellte. Doch zum Zeitpunkt seiner Übersetzung des Pentateuch aus dem Original schien sich Luther von diesen Vorurteilen befreit zu haben, davon legt seine Schrift von 1523 „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ Zeugnis ab. Zwischen ihm und der jüdischen Gemeinde war ein gelehrter und freundschaftlicher Dialog im Entstehen begriffen. Dennoch konnte eine Zweideutigkeit nicht ausgeräumt werden: der Reformator hoffte durch seine Arbeit die Juden früher oder später zum Christentum zu bekehren. Die immer wieder beteuerte Unabhängigkeit der jüdischen Gemeinde wurde ihm zum Quell zunehmenden Unverständnisses, von Groll und Verblendung.
Die Lehre von den zwei Reichen
In der Theologie Luthers, laut der der Mensch durch die Gnade Gottes und nicht durch Werke gerechtfertigt wird, spielt das 13. Kapitel des Römerbriefes eine wichtige Rolle. Dort unterscheidet der Apostel Paulus das, was unter dem Urteil und der Herrschaft der Menschen steht, von dem, was dem Urteil und dem Reich Gottes angehört. Diese Unterscheidung wurde oft zu eng ausgelegt: sie begünstige die Innerlichkeit des Christen, die allein für seinen Glauben wesentlich sei, und führe zu einer gewissen Passivität gegenüber der, wie man meinte, von Gott gewollten sozialen Ordnung. Viele glauben, dass Luther in der Tat so gedacht habe, da er sich bei mehreren Gelegenheiten gegen die gerechte Sache den Fürsten angeschlossen hat.
Gewisse Stellungnahmen Luthers sind sicher geeignet, Missverständnisse hervorzurufen:
„Ich bin und werde immer auf der Seite der Opfer des Aufstands sein, wie ungerecht auch ihre Sache sein mag. Ich widersetze mich und werde mich immer der Gewalt widersetzen, wie gerecht auch ihre Sache sein mag, denn jeder Aufstand ist nur durch Vergießen unschuldigen Blutes zu bezahlen.“ (zitiert nach Albert Greiner, Luther, Biographischer Essay, Paris 1956, Seite 119)
Sich mit diesen Feststellungen zu begnügen, wäre allerdings problematisch:
- Die Lehre von den zwei Reichen, wie Luther sie in seinem Kommentar zum Römerbrief entwickelt hat, ermutigt nicht zu blindem Gehorsam gegen die Fürsten, sondern regt vor allem zum kritischen Hinterfragen an: keine weltliche Macht kann sich aus göttlichem Recht herleiten oder beanspruchen, im Namen Gottes zu handeln.
- In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ ermutigt Luther zu kritischen Überlegungen über die Regierungsweisen.
Im 20. Jahrhundert haben die lutherischen Pfarrer der Bekennenden Kirche, Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer und viele andere, die an der Barmer Bekenntnissynode 1934 teilgenommen hatten, es wohl begriffen: Gegen den Nationalsozialismus musste gekämpft werden und davor haben sich nicht gedrückt.