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Oscar Cullmann (1902-1999)

Oscar Cullmann ist einer der großen protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Als Spezialist für das Neue Testament beteiligt er sich aktiv am ökumenischen Dialog mit der katholischen Kirche.

Ausbildung

Oscar Cullmann (1902-1999) © Archives personnelles de Matthieu Arnold
Strassburg, Universitätsgebäude : die theologische Fakultät (Bas-Rhin)
Das Institut für protestantische Theologie (Paris) © Thibault Godin

Oscar Cullmann wird 1902 in Straßburg geboren, das damals zum Deutschen Reich gehört. Er ist das jüngste Kind einer lutherischen Familie mit 9 Kindern, deren Vater Grundschullehrer ist. Er besucht das Jean-Sturm-Gymnasium und tritt dann in die Protestantische Fakultät von Straßburg ein, wo er bemerkenswerte Kenntnisse in Griechisch, Hebräisch und Aramäisch erlangt.

1925 schreibt er sich an der Freien Fakultät der Protestantische Theologie in Paris ein sowie in der IV. Abteilung (Religionswissenschaften) der École Pratique des Hautes Études (EPHE), wo er dem Unterricht von Maurice Goguel (1880-1955) folgt. Außerdem hört er die Vorlesungen von Alfred Loisy (1857-1940), der nach der modernistischen Krise an das Collège de France berufen wurde. Dieser entwickelt dort die in dem Buch behandelten Themen, das ihm die Exkommunizierung durch Pius X. einbrachte: „Evangelium und Kirche“ (1902). Es handelt sich im Besonderen um den Galaterbrief (1916) und allgemein um die Exegese der Bücher des Neuen Testaments.

1926 wird Oscar Cullmann zum Direktor des Collège Saint-Guillaume in Straßburg ernannt, das Studenten der protestantischen Theologie beherbergt. 1927 wird er mit dem Griechischunterricht an der theologischen Fakultät betraut. 1930 verteidigt er seine Magisterarbeit, die die Beziehung zwischen der Gnosis und dem jüdischen Christentum behandelt.

Akademische Laufbahn

Karl Barth (1886-1968) © Collection privée
Universität von Basel © Université de Bâle
Pater Yves Congar auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1964 © Wikimedia Commons
Konzil Vatikanstadt II (1962-1965) © Lothar Wolleh

Oscar Cullmanns Magister führt zu seiner Ernennung zum Universitätsdozenten für Griechisch und Neues Testament in Straßburg: sein Unterricht befasst sich mit den Evangelien, den Briefen des Paulus, der Apostelgeschichte. 1938 wird er von der Straßburger Fakultät beurlaubt, um auf Deutsch das Neue Testament und die Geschichte der urchristlichen Kirche an der protestantischen theologischen Fakultät der Universität Basel zu lehren. So nähert er sich Karl Barth (1886-1968).

Nach dem Krieg übersetzt er häufig für diesen auf Französisch, besonders anlässlich der Besuche bei der französischen Besatzungsarmee im Schwarzwald.

Nach dem Krieg, von 1945 bis 1948, nimmt er seine Lehre in Straßburg wieder auf, behält aber nach der Verteidigung seiner Doktorarbeit „Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung“ (1945) seinen Posten in Basel bei.

Sein Werk „Christus und die Zeit“ (1946) über die Geschichte des Heils macht ihn international bekannt. Nach seiner 1948 erfolgten Ernennung zum Studiendirektor in der IV. Abteilung der EPHE in Paris tritt er die Nachfolge von Maurice Goguel an und wird Professor für Neues Testament und Griechisch an der Freien Fakultät für Protestantische Theologie in Paris (1954-1968).

Als langjähriger Freund des Dominikaners Yves Congar (1904-1999) begegnet er Papst Johannes XXIII. und nimmt auf dessen persönliche Einladung hin am Zweiten Vatikanischen Konzil teil (1962-1965).

1972 wird er in die Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften auf den Sitz von Pastor Marc Boegner (1881-1970) gewählt.

Während seines Ruhestandes ab 1972 ist er sehr aktiv. Er nimmt an der Gründung des ökumenischen Instituts Tantur in Jerusalem teil, das er ein Jahr lang leitet und das mit der katholischen Universität Notre Dame (Illinois, USA) über mit der Heilsgeschichte verbundene Themen zusammenarbeitet. Er veröffentlicht ein bedeutendes Werk über das Gebet im Neuen Testament.

Oscar Cullmann stirbt in Chamonix im Alter von 96 Jahren.

Exegese des Neuen Testaments

Der Lehrsatz des Göttlichen Wortes von Karl Barth © S.H.P.F.

Oscar Cullmann spezialisiert sich auf die Exegese des Neuen Testaments und die Geschichte des Urchristentums. Seiner Meinung nach – und infolge seiner Arbeiten über die modernistische Exegese (nach dem Problem des Reiches Gottes, wie Adolf von Harnack (1851-1930) es in „Das Wesen des Christentums“ darstellt und Loisy in „Evangelium und Kirche“) – kann das Neue Testament den Christen helfen, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen.

Er betont die Verwurzelung des Christentums im Judentum und interessiert sich auch für seine Beziehungen zu den Essenern. Was die Heilsgeschichte angeht, so hat die Endphase seiner Meinung nach schon begonnen, auch wenn ihre Vollendung noch aussteht.

So eröffnet Oscar Cullmann eine Debatte mit Rudolf Bultmann (1884-1976), der die Meinung vertritt, dass die Erzählungen des neuen Testaments zum Teil mythisch sind und in die moderne Sprache und die Fragestellungen des Menschen des 20. Jahrhunderts übertragen werden müssen (vgl. den 1968 mit einem Vorwort von Paul Ricoeur, 1913-2005, auf französisch erschienenen Band „Jésus, mythologie et démythologisation“).

Cullmann schlägt eine Alternative vor: die Bibel muss sicherlich interpretiert werden, aber die Heilsgeschichte darf nicht als „mythisch“ betrachtet werden, außer man vertritt einen völlig verschiedenen Glauben; Jesus Christus ist für die ersten Christen ebenso schwer anzunehmen wie für den Menschen von heute.

Neben seinen universitären Arbeiten veröffentlicht Oscar Cullmann in einer sehr klaren Darstellung kleinere Werke über Fragen der praktischen Theologie und der Aktualität.

Was die Taufe angeht, so erinnert er daran, dass das Neue Testament von Fällen berichtet, in denen der Glaube der Taufe vorangeht, aber auch, dass der Glaube im Moment der Taufe nicht verlangt wird, sondern erst hinterher. Es handelt sich dabei um eine Auseinandersetzung mit Karl Barth (1886-1968), der sich während der Verfassung seiner Dogmatik nach und nach von einer die Taufe kleiner Kinder begünstigenden Taufe entfernt hat.

Bezüglich der Auferstehung von den Toten nimmt Cullmann die Predigt der ersten Christen wieder auf und verbindet die Idee der Auferstehung mit dem Thema der jüdischen Apokalyptik: im Gegensatz zur Unsterblichkeit der Seele enthält sie eine doppelte Diskontinuität: die Zerstörung des Seins und seine Wiedererschaffung durch eine neue schöpferische Handlung, die als leibliche Auferstehung verstanden wird.

Zum Thema Gebet nimmt Oscar Cullmann eine Interpretation des Vaterunser vor. Jedes Gebet muss eine Begegnung mit Gott in Vereinigung mit seinem Willen sein: man muss hinnehmen, dass das Gebet nicht erhört wird. Durch unsere Gebete werden wir Mitarbeiter Gottes in der Heilung der Wunden der Welt, in die wir geworfen sind.

Politisches und soziales Engagement

Martin Niemöller (1892-1984) © Wikimedia Commons

Oscar Cullmann begründet sein Engagement mit der Botschaft, die er im Neuen Testament findet. Er steht einer besonders gewalttätigen Welt gegenüber, gekennzeichnet von zwei Weltkriegen, die die bürgerliche Gesellschaft tief getroffen haben; er leidet an der Ungerechtigkeit und kümmert sich um konkrete Aktionen.

Bei der Rückgabe von Elsass-Lothringen an Frankreich 1918 zeigt er Exzesse der Sondergerichte gegen der „Untreue gegenüber dem französischen Vaterland“ beschuldigte Personen auf.

Ab 1934 stellt er sich auf die Seite der deutschen Bekennenden Kirche gegen die Evangelische Kirche des Reichs und widersetzt sich den Deutschen Christen (dem Nationalsozialismus gewogene Protestanten) und ihrer „Verfälschung der evangelischen Botschaft“.

1945 organisiert er in Basel eine große Sammlung für seine Kollegen der Straßburger Universität, die ins Elsass zurückkehren, nachdem sie sich während des Zweiten Weltkriegs nach Clermont-Ferrand zurückgezogen hatten. Er ruft ebenfalls zu Schweizer Spenden auf für die Universität und die protestantischen Kirchen von Elsass-Lothringen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bedauert er, dass die Kirchen zwar die Verbrechen des Nationalsozialismus verurteilen, die des sowjetischen Kommunismus aber totschweigen. Er verteidigt öffentlich seinen Kollegen, den deutschen Theologen Ernst Lohmeyer (1890-1946), der ungerechterweise für Kriegsverbrechen an der russischen Front angeklagt und schließlich von den Sowjets hingerichtet wurde.

Engagement für einen ökumenischen Dialog mit der katholischen Kirche

W.A. Visser't'hooft (1900-1985) und Kardinal Bea © Fédération Protestante de France
Papst Paul VI. und der Erzbischof von Canterbury Mickael Ramsey © ANCS

Oscar Cullmann nimmt an der Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Aber er entwickelt auch einen regen Austausch mit der römisch-katholischen Kirche. Dank seines häufigen Umgangs mit den modernistischen Kreisen und seiner langjährigen Freundschaft mit dem Dominikaner Pater Yves Congar, der 1994 zum Kardinal ernannt wurde, widmet er den Verbindungen zwischen Schrift und Tradition große Aufmerksamkeit und setzt sie nie in Gegensatz zueinander. 1948 lehrt er an der Waldenser Fakultät in Rom und besucht regelmäßig das von Pater Augustin Béa (1881-1968) geleitete päpstliche Bibelinstitut. Während dieses Aufenthalts wird er in Audienz von Papst Pius XII. empfangen. Sein Werk über den Apostel Petrus findet in Rom große Beachtung.

Oscar Cullmann geht die Ökumene immer im Licht des Neuen Testaments an. Während der Gebetswoche für die Einheit der Christen 1957 wirft er die Idee einer konkreten Aktion auf in Anlehnung an die Sammlung für die Jerusalemer Kirche in den vom Apostel Paulus gegründeten Gemeinden: eine gegenseitige Kollekte von protestantischen und katholischen Gemeinden. Die Idee wird gut aufgenommen und an vielen Orten praktiziert, aber dann verliert sie an Kraft, denn es fehlt die Unterstützung des Ökumenischen Rates der Kirchen und des Sekretariats für die Einheit der Christen.

1962 übergibt ihm Pater Béa, seit 1959 Kardinal und seit 1960 Direktor des Sekretariats zur Förderung der Einheit der Christen, eine Einladung zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) als persönlicher Gast des Papstes, was ihm große Freiheit im Vergleich zu den als Beobachter geladenen Vertretern der anderen Konfessionen einräumt. Er ist bei den gesamten Sitzungsperioden dabei und kann an den Arbeitskreisen des Sekretariats für die Einheit der Christen teilnehmen. Wenn er auch im Konzil kein Stimmrecht hat, so bieten die Pausen und Mahlzeiten doch Gelegenheit zum Austausch mit den Konzilsvätern und er hat Gespräche mit Papst Paul VI.

Oscar Cullmann verteidigt die Idee einer Ökumene, die nicht einen Zusammenschluss der christlichen Kirchen zum Ziel hat, sondern eine Einheit in Verschiedenheit, bei der jede Kirche autonom bleibt, aber alle in Gemeinschaft und im Respekt gegenüber den anderen leben.

Die Glaubensgemeinschaft der Kirchen soll die Feier von gemeinsamen Gottesdiensten ermöglichen, die die eucharistische Gastfreundschaft nicht ausschließen.

Ab 1972 intensiviert Oscar Cullmann seine Kontakte zu den Orthodoxen, die er während seiner Reisen nach Rumänien 1975 und nach Griechenland 1976 vertieft.

1980 weiht er den ökumenischen Garten am Ölberg ein, wo die Christen eingeladen sind, sich zum Gebet für die Einheit zu versammeln.

Nach „Oscar Cullmann“ von Matthieu Arnold

Bibliographie

  • Bücher

    Dazugehörige Vermerke

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