Ein radikaler Liberaler
Timothée Colani wurde in Lemé (Aisne) geboren und erhielt eine pietistische Erziehung in einer Gemeinde Böhmischer Brüder. Er studierte Theologie an der Fakultät von Straßburg und wurde danach Pastor an der dortigen Nikolaikirche, besetzte aber gleichzeitig den Lehrstuhl für Predigtkunst am Theologischen Seminar.
Sein Umgang mit Edmond Scherer und der Einfluß von Edouard Reuss überzeugten ihn von der Notwendigkeit einer Neugestaltung des theologischen Denkens im französischsprachigen Raum, durch die dem zeitgenössischen Empfinden eine christliche Botschaft vermittelt werden sollte, die seiner Auffassungsgabe entsprach.
1850 gründete Colani die Revue de théologie et de philosophie chrétienne (Zeitschrift für Theologie und christliche Philosophie, auch Revue de Strasbourg –Straßburger Zeitschrift- genannt), die schnell zum Sprachrohr des radikalen Liberalismus wurde. Colani warf der Orthodoxie, die für ihn von den Erweckungspredigern verkörpert wurde, vor, « kein Humanismus zu sein, Gott entrückt über der Welt schweben zu lassen und weder das Erdenleben Jesu noch die in die Gesellschaft hineinwirkenden Wissensfortschritte in Betracht zu ziehen ». Auch verwarf Colani in seiner Lesart des Neuen Testaments sämtliche Berichte, die Jesus Eigenschaften zuschreiben, die nicht von dieser Welt sind (seine eschatologische Rolle), da « Religiosität zur bloßen Behauptung wird, wenn der Mensch nicht von und in ihr lebt » (André Encrevé, Les protestants).
Mit diesen Äußerungen zog sich Colani harsche Kritik zu. Die Evangelikalen warfen ihm vor, seine Lehre von der Person Christi (Christologie) ausschließlich auf dem Gebiet der Moral und des Gewissens zu entwickeln und so « die Begründung der einzigartigen Eigenschaft zu beseitigen, die im göttlichen Ergreifen des Menschen durch die Person von Jesus Christus besteht ». 1854 gründeten sie mit der Revue Chrétienne [Christliche Zeitschrift] ihr eigenes Presseorgan.
Timothée Colani gab 1871 alle seine pastoralen und professoralen Stellen auf ; ab 1877 arbeitete er als Hilfsbibliothekar an der Sorbonne. Er wandte sich der Literatur und der Politik zu und schrieb für verschiedene Zeitungen, darunter Le Temps [Die Zeit] und die von Gambetta herausgegebene La République française [Die französische Republik]. Auf der Generalsynode der Reformierten Kirche von 1872 forderte Colani, das geistliche Erbe der Reformation, das die Orthodoxen seiner Meinung nach mehr oder weniger vernachlässigten, endlich ernst zu nehmen. Dieser Aufruf fand ebenso starke Beachtung wie seine rückhaltlose Ablehnung des von der selben Synode angenommenen Glaubensbekenntnisses.