Die grenzüberschreitende Bibel
Vor der Aufhebung des Ediktes von Nantes war durch einen Beschluss des königlichen Rats vom 9. Juli 1685 allen protestantischen Buchhändlern und Druckern befohlen worden, ihre Arbeit einzustellen.
Zahlreiche Gläubige wanderten daraufhin in protestantische Länder aus. Es wurde demnach unmöglich, die Genfer Bibel in Frankreich zu drucken. Aber in Genf, Amsterdam, Leyden …wurden die Bibeln gedruckt. Um den protestantischen Glauben derer, die abgeschworen hatten und in Frankreich geblieben waren zu unterstützen, wurden Schriften zusätzlich herausgegeben. (Die Hirtenbriefe von Jurieu vom Jahre 1686 oder die Briefe an die Römisch–Katholischen von Claude Brousson vom Jahre 1688, wurden in 10.000 Exemplaren gedruckt.)
Manchmal handelte es sich um Liturgien oder Predigten für Gemeinden, die keine Pfarrer hatten. Alle diese Texte gingen heimlich über die Grenzen und konnten dann in Frankreich trotz aller Hindernisse verteilt werden.
Die versteckte Bibel
Im Oktober 1685 verbot das Edikt von Fontainebleau (oder die Aufhebung des Ediktes von Nantes) für ganz Frankreich die Ausübung der protestantischen Religion. Ein Teil der protestantischen Bevölkerung wanderte in protestantische Länder aus. Die Mehrheit schwor ab unter den Bedrohungen durch Soldaten. Man bezeichnete sie als die Neuen Bekehrten. Zahlreich waren diejenigen unter ihnen, die heimlich weiterhin die Bibel lasen und weiterhin die Psalmen sangen.
Und dies, obwohl das Pariser Parlament schon am 6. September 1685 jeglichen Gebrauch der Bibel und des Genfers Neuen Testaments (das heißt der Bibel von Olivetan, die in Genf revidiert worden war) verboten hatte. Allen Polizeioffizieren war befohlen worden, sie zu suchen „sowohl bei den Druckern und Buchhändlern als auch in den Häusern der Pastoren und der Ehemaligen“ (es handelt sich um Pastoren und Verantwortliche der protestantischen Gemeinden) . So war der Besitz einer Bibel gefährlich geworden. Sie zu besitzen galt als Indiz, ein schlechter Katholik zu sein. Dieser war Verfolgungen, Geldstrafen und Verhaftung ausgesetzt.
Die „Neuen Bekehrten“ sahen sich also gezwungen, ihre Bibeln zu verstecken. Die Verstecke fielen sehr verschiedenartig aus: hinter einem Spiegel, unter einem Hocker, in der Dicke einer Mauer. Oder aber die Bibeln wurden winzig, so die „Bibeln des Haarknotens“, die sich leicht in den Haarknoten der Frauen verbergen liessen.
Die Mehrzahl der Soldaten, die die Häuser der „Neuen Bekehrten“ durchsuchen mußten, konnten meist nicht lesen.Von ihren Offiziere hatten sie gelernt, die erste Seite der Genfer Bibel zu erkennen. Deshalb rissen die „Neuen Bekehrten“ oft die erste Seite ihrer Bibel heraus, um sie für die Soldaten unkenntlich zu machen.
All diese Findigkeiten haben es zahlreichen Familien ermöglicht, ihre Bibeln zu behalten und weiterhin darin zu lesen. Meist traf man sich zum Lesen der Bibel innerhalb der eigenen Familie oder mit den Nachbarn.
Die Kinder waren die verpflichtet worden, am katholischen Katechismus Unterricht teilzunehmen, „verlernten“ aber oft am Abend im Familiengottesdienst beim Bibellesen und Psalmensingen, was sie tagsüber im katholischen Katechismus gelernt hatten.
Die gepredigte Bibel
Jeglicher reformierte Gottesdienst war seit der Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685) verboten worden. Dennoch haben die „Neuen Bekehrten“ sich weiterhin an entlegenen Orten versammelt, manchmal nachts, um einem Prediger zuhören zu können. Sollten sie von Soldaten überrascht werden, riskierten die Männer die Galeeren, die Frauen und jungen Mädchen Gefängnishaft oder Kloster, die Prediger aber den Galgen. Die Zahl der Märtyrer am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts war bedeutend. Die„Protestanten“ liessen sich durch diese Gefahren nicht daran hindern , die Bibel gepredigt oder ausgelegt hören zu wollen. Sie wurde ihnen im Alltag zum Wort des Lebens, zum Wort des Trostes in der Zeit der Bewährungen.
Da allen Pastoren befohlen worden war, das Königreich innerhalb der nächsten 14 Tagen nach dem Edikt von Fontainebleau zu verlassen, waren es Laien, „Prediger“ genannt, die die meist vor 1685 oder im Refugium gedruckten Predigten vorlasen. Auch diese Prediger wurden von Soldaten verfolgt, verendeten am Galgen oder auf dem Rad, falls sie nicht schon vorher ausgewandert waren. Sie wurden durch die „Propheten“ ersetzt.
Die prophetisierte Bibel
Im Jahre 1688 tauchte im Dauphiné eine originelle Bewegung des Protestantismus auf: der Prophetismus. Eine junge Schäferin, Isabeau Vincent, sprach im Schlaf, zunächst in Dialekt, dann auf französisch. Ihre Rede bestand aus einer Abfolge von Bibelversen, die sich den Umständen perfekt angepasst, aneinanderreihten: „Haltet fest – Sucht das Wort – Ihr findet es dank der Bußfertigkeit“. Viele Leute liefen herbei, um sie zu hören. Diese Bewegung der „kleinen Propheten“ ging weiter, breitete sich im Vivarais aus, bevor sie die Cevennen erreichte.
Diese Propheten bestanden in der Überzahl aus jungen Leuten, Mädchen oder Jungen. Die meisten unter ihnen waren Analphabeten und sprachen nur in Mundart. Daher das Erstaunen, sie auf französisch prophetisieren zu hören. Man kann das durch ein mündliches Gedächtnis der auf französisch gehörten Bibelstellen erklären.
Die meisten strikten Befehle dieser „kleinen Propheten“ betrafen die Beziehungen zur katholischen Kirche, die als das “ das große Babylon“ bezeichnet wurde. Ihre Worte riefen die „Neuen Bekehrten“ dazu auf, zum protestantischen Glauben zurückzukehren, indem sie sich weigern sollten, an Messen teilzunehmen. Diese Anmahnungen der biblischen Propheten, die den Gläubigen von den „kleinen Propheten“ immer wieder erneut eingehämmert wurden, (Babylon zu verlassen und zu Gott zurückzukehren) haben einen ungeheuren Einfluss auf das Volk in den Cevennen gehabt. Sie wurden zum Ausgang des bewaffneten Aufstandes, des Kamisardenkrieges (1702-1704).
Die studierte Bibel
Nach der Episode des Kamisardenkrieges verzichteten die „Neuen Bekehrten“ auf Gewalt und die prophetische Bewegung erlosch allmählich. Die heimlichen Versammlungen lebten wieder auf nach dem Tod von Ludwig XIV und unter dem Einfluss von Antoine Court.
Eine besonnenere Organisation und eine Rückkehr zur Disziplin der reformierten Kirchen folgte auf die prophetischen Bewegungen spontaneren Charakters.
Dank der Anregung durch Antoine Court wurde 1726 in Lausanne eine Schule eröffnet, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Pastoren des „Désert“ (der Wüste, heimliche Pastoren, die gezwungen waren, sich ständig zu verstecken) auszubilden. Die Unterrichtsstunden konzentrierten sich an erster Stelle auf das Studium der Bibel.
Viele dieser in Lausanne ausgebildeten Pfarrer wurden im Anschluss an ihre Rückkehr nach Frankreich dort denunziert und hingerichtet. Die letzte dieser Hinrichtungen ist die des Pastors Rochette 1762 in Toulouse gewesen.
Obwohl sich ab 1760 ein Klima von Toleranz entwickelte, wurde die Glaubensfreiheit erst 1789 wiederhergestellt.